Ausgehöhlt! (Sachverhalt)
Unter Berlin erstreckt sich, bedingt durch die wechselhafte Geschichte, ein weitverzweigtes Netzwerk von unterirdischen Versorgungsleitungen, ungenutzten Verkehrswegen und Bunkern. Ein häufig genutzter Kellereingang befindet sich in der Wilhelmstraße in Mitte. In diesem unterirdischen Labyrinth sind schon früher hin und wieder Menschen verunglückt, doch hat in den letzten Jahren die Zahl der Unglücksfälle erheblich zugenommen, seitdem zahlreiche Amateur-Höhlenforscher die Erkundung der Berliner Unterwelt als interessante Herausforderung entdeckt haben. Die Unfälle in den unterirdischen Bauten führten häufig zu schweren Verletzungen und mehrfach auch zum Tode von Personen, die durch altersschwache Böden gebrochen waren und sich nicht selbst hatten befreien können, zumal wegen der Lage Berlins in einem Urstromtal das Grundwasser in die alten Gewölbe geströmt war; im vergangenen Jahr hatten insgesamt neun Personen auf diese Weise den Tod gefunden, darunter vier, die bei dem Versuch, Verunglückte zu bergen, selbst abgestürzt und umgekommen waren.
In einer daraufhin anberaumten Debatte in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) des Bezirks Mitte betonten im Frühjahr Redner aller Fraktionen die Notwendigkeit, weitere Unglücksfälle umgehend zu verhindern. Die Bezirksbürgermeisterin Loki Levenbrück bezweifelte indes, ob ein Einschreiten geboten sei: Die Zugänglichkeit der Unterwelt fördere den Fremdenverkehr in Mitte nicht unerheblich, Mitte sei eben „Arm aber gefährlich!“, und bisher seien auch keine Unbeteiligten zu Schaden gekommen. Nach längerer Diskussion ließ Levenbrück sich aber davon überzeugen, dass jetzt Handlungsbedarf besteht. Am folgenden Tag erließ Levenbrück als Verantwortliche im Bezirksamt deshalb eine Verfügung, mit der das Betreten der unterirdischen Bauten um die Wilhelmstraße wegen Lebens- und Gesundheitsgefahren generell untersagt wird; Ausnahmen können erfahrenen Höhlenforschern im Einzelfall erteilt werden. Die Verfügung wurde zwei Tage später in „Amtsblatt für Berlin“ veröffentlicht, dem amtlichen Bekanntmachungsblatt für die Stadt Berlin. Die Veröffentlichung erfolgte zusammen mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung sowie mit dem Hinweis, dass sie im Bezirksamt Mitte eingesehen werden könne und dass sie an dem auf die Bekanntmachung folgenden Tag als bekanntgegeben gelte; zugleich wurde der Kellereingang durch ein Drahttor versperrt und davor ein Schild aufgestellt, auf dem der veröffentlichte Verfügungstext wiedergegeben ist.
Der seit einem Jahr an der Freien Universität Berlin eingeschriebene Student der Rechtswissenschaft Ole Mikaelsen ist über die Maßnahme Levenbrücks empört – er hat schon mehrfach in den Semesterferien auf der Schwäbischen Alb Höhlenerkundung betrieben und sich nunmehr vorgenommen, die Berliner Unterwelten näher zu erforschen. Er legt deshalb, als er zwei Monate später erstmals davon erfährt, sofort gegen die Entscheidung des Bezirksamts Widerspruch ein, der jedoch vom – zuständigen – Bezirksamt als unbegründet zurückgewiesen wird. Zwei Wochen nach diesem Beschluss erhebt Mikaelsen schriftlich Klage vor dem Verwaltungsgericht Berlin gegen das Verbot, die Höhlen zu betreten, und führt zur Begründung aus, eine derartige generelle Untersagung dürfe nur durch eine Verordnung, nicht aber durch eine Einzelfallregelung getroffen werden. Im Übrigen schließe das verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht auch die Befugnis jedes Einzelnen ein, darüber zu entscheiden, welchen Gefahren er sich aussetzen wolle, zumal da auch Amateur-Höhlenforscher die Höhlen niemals allein, sondern stets nur in Begleitung aufsuchten (was nicht zuletzt durch die Tatsache belegt werde, dass die vier im vergangenen Jahr bei Rettungsversuchen um ihr Leben gekommenen Personen jeweils verunglückt seien, als sie zuvor abgestürzten Mitgliedern ihrer Gruppen hatten helfen wollen).
Bitte beurteilen Sie die Erfolgsaussichten der Klage.
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© Klaus Grupp (Universität des Saarlandes) und Ulrich Stelkens (Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer)
Bearbeitung für Hauptstadtfälle: Georg Hellmich
Stand der Bearbeitung: Januar 2014