Jubiläumsveranstaltung
Neuanfang mit Demokraten
In ihrer Festrede zum 75-jährigen Bestehen des Fachs Rechtswissenschaft an der Freien Universität unterstrich Christina Stresemann die Bedeutung der Fakultät in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit
20.12.2023
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden Juristen in ganz Deutschland aufgrund ihrer jüdischen Abstammung oder wegen politischer Aktivitäten ihrer Professuren und Richterämter enthoben. Gerhart Husserl, Sohn des Philosophen Edmund Husserl, etwa, seit 1926 Professor für Römisches und Bürgerliches Recht an der Universität Kiel, wurde Ende 1935 auf Grundlage der Nürnberger Rassengesetze in den Ruhestand versetzt, im Februar 1936 wurde ihm die Lehrerlaubnis entzogen. Viele der Betroffenen flohen vor der nationalsozialistischen Verfolgung ins Ausland, in die USA, nach England oder die Türkei.
„Von den Menschen, die nach 1945 nach Deutschland zurückkehrten, erhielt nur rund jeder sechste wieder eine Professur“, sagte Christina Stresemann. „Stattdessen wurden die Stellen mit exponierten Nationalsozialisten besetzt.“
Die Juristin, die an der Freien Universität Berlin studiert hat, dort promoviert wurde und von 2003 bis 2022 Richterin am Bundesgerichtshof war, nahm in ihrer Festrede anlässlich des 75-jährigen Jubiläums des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Freien Universität den Zustand juristischer Fakultäten an deutschen Universitäten nach dem Zweiten Weltkrieg kritisch in den Blick.
Die Veranstaltung wurde gemeinsam vom Fachbereich Rechtswissenschaft und dem Kapitel Rechtswissenschaft der ERG ausgerichtet.
„Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität ragte in der Universitätslandschaft der Nachkriegszeit einzigartig heraus“, sagte sie. „Während sich die juristischen Fakultäten in ganz Deutschland wieder mit Nationalsozialisten füllten, knüpfte man hier an die demokratischen Traditionen der Weimarer Republik und an angelsächsisches, freies Rechtsdenken an.“
Christina Stresemann stammt selbst aus einer Familie mit Remigrationsgeschichte. Ihr Vater, Wolfgang Stresemann, Dirigent und Sohn des berühmten Staatsmannes Gustav Stresemann – in der Weimarer Republik Reichskanzler und -minister des Auswärtigen – musste vor den Nationalsozialisten ins Exil fliehen und kehrte Anfang der 1950er Jahre nach Berlin zurück. Für das Jura-Studium an der Freien Universität habe sie sich gerade wegen ihrer Familiengeschichte entschieden, sagte sie.
Zwar seien die meisten nationalsozialistischen Juristen nach Kriegsende von den Westalliierten ihrer Ämter enthoben worden – durch ein bundesrepublikanisches Gesetz im Jahr 1951 hätten sie allerdings einen Rechtsanspruch auf Wiederanstellung erhalten. „Sie kehrten zurück auf ihre Lehrstühle und prägten die herrschende Meinung, wie sie es in den 1930er Jahren getan hatten“, sagte Stresemann. „Während die zurückgekehrten Emigranten als unbequeme Mahner auf Distanz gehalten wurden.“
So erhielt Gerhart Husserl nach seiner Rückkehr nach Deutschland seine Professur in Kiel nicht zurück. Stattdessen wurde dort der Jurist Karl Larenz rehabilitiert, der als einer der prominentesten nationalsozialistischen Zivilrechtler gilt. Dessen Lehrbücher zum Zivilrecht und zur Methodenlehre sind noch heute Standardwerke.
Durch ihre Gründungsgeschichte sieht sich die Freie Universität Berlin in besonderem Maße der demokratischen Tradition verpflichtet. So entwickelte sich die Rechtswissenschaft dort zu einem Ort für entschiedene Gegner des nationalsozialistischen Systems.
An der Freien Universität unterrichteten Menschen wie Ernst Rabel, einst Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht, der aufgrund der Nürnberger Rassengesetze 1937 seine Stellung verloren hatte und in die USA fliehen musste.
Menschen wie Ernst Eduard Hirsch, dem die Nationalsozialisten nur zwei Jahre nach seiner Berufung als Richter auf Lebenszeit die Stelle aufgrund seiner jüdischen Herkunft entzogen hatten und der im Exil in der Türkei maßgeblich das Recht der türkischen Republik weiterentwickelte.
Menschen wie Ernst Heinitz, der während des Nationalsozialismus seine Stelle als Vorsitzender des Berliner Arbeitsgerichts verloren hatte und später in der italienischen Widerstandsbewegung aktiv geworden war. 1948 war er nach Deutschland zurückgekehrt, wurde 1952 (bis 1970) Ordinarius für Strafrecht, Prozessrecht und Arbeitsrecht an der Freien Universität Berlin – und war von 1961 bis 1963 ihr Rektor.
„Diese Menschen haben die demokratische Rechtswissenschaft in der Bundesrepublik maßgeblich geprägt“, sagte Stresemann. „Ebenso wurden Generationen von Studierenden von ihnen geprägt.“ Ernst Eduard Hirsch etwa, der an der Freien Universität eine Professur für Handelsrecht und Rechtssoziologie innehattet, wurde Doktorvater von Jutta Limbach – später selbst Jura-Professorin an der Freien Universität, anschließend Justizsenatorin und von 1994 bis 2002 die erste Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Auch zwei weitere Verfassungsgerichtspräsidenten wurden an der Freien Universität ausgebildet: Ernst Benda und Hans-Jürgen Papier.
Im Anschluss an den Festvortrag nahm Christian Armbrüster, Professor für Zivilrecht mit einem Schwerpunkt auf dem Privatversicherungsrecht am Fachbereich Rechtswissenschaft, die Zuhörerschaft mit auf eine kleine Zeitreise in die jüngere Vergangenheit des Fachbereichs.
Er berichtete aus der Innenperspektive, wie er den Fachbereich zu Beginn seiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter Anfang 1988 erlebt und was sich seitdem verändert hat. Die Freie Universität habe seinerzeit noch kein eigenes Corporate Design gehabt, sondern sei – ungeachtet ihrer rechtlichen Selbstständigkeit als Körperschaft – auf Briefköpfen mit dem groß geschriebenen Wort „BERLIN“ und damit im selben Design wie die Berliner Landesbehörden aufgetreten. Wer die späteren heftigen Diskussionen miterlebt habe, als das Siegel als Motiv für den Briefkopf eingeführt wurde, habe die kürzliche Auseinandersetzung über das neue Logo eher gelassen verfolgt, sagte Armbrüster.
Der Fachbereich sei baulich durch die vielen inzwischen veräußerten Villen geprägt gewesen, was er einerseits atmosphärisch reizvoll, andererseits auch Distanz schaffend fand. Die hohe architektonische Qualität des Ende der 1950er Jahre errichteten Fakultätsgebäudes in der Van’t-Hoff-Straße sei erst durch jüngere Rückbauten wieder sichtbar geworden. Auch die Außenanlagen hätten seit 1988 sehr gewonnen.
Anschließend richtete Armbrüster den Blick auf die vier Statusgruppen. Die Studierenden hätten 1988 für bessere Studienbedingungen gestreikt und dabei das sehr innovative, noch heute bestehende Tutorienmodell durchgesetzt. Heute seien sie weniger politisch als fachlich engagiert, was sich etwa an der „Berliner Rechtszeitschrift“ zeige. In der Wendezeit hätten sie früh Kontakte zur sich öffnenden Humboldt-Universität geknüpft. Der wissenschaftliche Mittelbau sei damals wie heute durch kollegiales Miteinander geprägt.
Bei den sogenannten Sonstigen Mitarbeitenden, also dem nichtwissenschaftlichen Personal, sei eine bemerkenswerte Kontinuität festzustellen: So seien viele der bereits um 1988 tätigen Personen jahrzehntelang dem Fachbereich treu geblieben. Besonders hervorzuheben sei das Engagement von Andreas Fijal, der als Studiendekan sowie als Leiter des Studien- und Prüfungsbüros und des International Office des Fachbereichs und in zahlreichen Gremien gewirkt und sich dabei große Verdienste um den Fachbereich und insbesondere das Wohl der Studierenden erworben habe. Das Auditorium schloss sich mit lebhaftem Applaus den an ihn gerichteten Genesungswünschen an.
Zur Professorenschaft merkte Armbrüster an, dass es Ende der 1980er Jahre ausgeprägte Typen gegeben habe, vom „Salonkommunisten“ über den Typus „bayerischer Ministerpräsident“ bis hin zum „Missionar“, der den wissenschaftlichen Nachwuchs durch handgeschriebene Briefe von der Richtigkeit seiner rechtspolitischen Thesen zu überzeugen trachtete. Heute sei das Professorium deutlich stärker durch ein kollegiales und sachorientiertes Miteinander geprägt, was sich etwa in dem seit einiger Zeit bestehenden Fakultätsseminar spiegele.
Auf dem von Professor Helmut Philipp Aust moderierten Podium saßen die Studierenden Ali Sahan, Anna Golubeva, Franziska Brachthäuser sowie Professorin Kirstin Drenkhahn und der Journalist Ronen Steinke (v.l.n.r.). | Bildquelle: Bernd Wannenmacher
Moderiert von Helmut Aust, Professor für Öffentliches Recht und die Internationalisierung der Rechtsordnung an der Freien Universität Berlin, folgte im zweiten Teil des Abends eine Podiumsdiskussion über die Ausgestaltung des Jurastudiums heute und darüber, was sich verbessern ließe.
Kirstin Drenkhahn, Professorin für Strafrecht und Kriminologie am Fachbereich Rechtswissenschaft, sprach sich dabei für ein verändertes Denken aus, was die Lehrformate der juristischen Ausbildung angeht: Die großen Veranstaltungsformate der Vorlesungen müssten stärker durch Kleingruppen und innovative Ausbildungsformate wie Law Clinics zumindest ergänzt werden.
Eine Forderung, die auch auf Zustimmung der an der Diskussion beteiligten Studierenden traf: Anna Golubeva und Ali Sahan, gewählte Vertreter der Studierenden im Fachbereichsrat und Repräsentanten der Kritischen Jurist*innen und der Fachschaftsinitiative Jura, berichteten aus ihrem Studienalltag und der zunehmend überfordernden Stofffülle, die sich durch ein jahrelanges Anwachsen der Prüfungsgegenstände und immer mehr zu verarbeitender Rechtsprechung ergebe. Sie sprachen sich auch für eine stärkere Beachtung des gesellschaftlichen Kontextes in der Ausbildung aus.
Dass es hierzu in der aktuellen Ausbildung bereits viel Spielraum und zahlreiche Initiativen gibt, hob Franziska Brachthäuser, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Fachbereich Rechtswissenschaft, hervor. Sie sprach sich aber auch dafür aus, Veranstaltungs- und Prüfungsformate aus dem Ausland zu übernehmen, die stärker auf Argumentation und Kontextwissen abzielen als die typischen Falllösungen des deutschen Jurastudiums und Staatsexamens.
Ronen Steinke, Jurist, Buchautor und Journalist bei der Süddeutschen Zeitung, betonte vor allem die menschlichen Aspekte der juristischen Ausbildungs- und Prüfungspraxis: „Was macht das Examen mit den Kandidatinnen und Kandidaten?“ stellte er als Frage in den Raum.
Auf dem Podium und im Austausch mit dem Publikum bestand Einigkeit darüber, dass die Reform des Jurastudiums ein Dauerbrenner ist und bleibt. Aber auch darüber, dass es gerade an der Freien Universität Berlin eine bis heute anhaltende bemerkenswerte Tradition der Einbindung von Studierenden in Fragen der Forschung und Lehre gibt, etwa durch das bundesweit so einmalige Tutorienprogramm, die Moot Courts oder die von Studierenden initiierte und herausgegebene „Berliner Rechtszeitschrift“.
Wie sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bei dieser Jubiläumsfeier miteinander verbanden, zeigte sich an zwei besonderen Veranstaltungsteilnehmern: Im Publikum saßen auch zwei Urenkel von Ernst Heinitz, dem aus dem Exil zurückgekehrten Strafrechtsprofessor und ehemaligen Rektor der Freien Universität. Die beiden haben im Wintersemester ihr Jurastudium an der Freien Universität aufgenommen.