Folgenorientierung – Amateursoziologie von der Richterbank oder Pflicht der Wissenschaft?
Seminar with Susanne K. Paas (Max Planck Institute for Legal History and Legal Theory)
Joint Seminar with LSC—The Laws of Social Cohesion.
Die 1970er Jahren waren eine aufregende Zeit für die interdisziplinäre Forschung. Man diskutierte soziologische Großtheorien, entdeckte Nachbardisziplinen, las zu Marx und ökonomischer Analyse in der U-Bahn, studierte einstufig Jura, klärte Gerichte über die richtigen empirischen Fragstellungen auf und bewarf Niklas Luhmann und den Verfassungsgerichtspräsident Ernst Benda mit Mehl als beide versuchten über Gentechnik zu referieren. Luhmann war Kritik gewohnt. In seinem Werk „Rechtssystem und Rechtsdogmatik“ hatte er gegen den Trend der Zeit Zweifel am Nutzen der Sozialwissenschaften für die konkrete Rechtsanwendung geäußert: „Es ist im Augenblick schlechterdings nicht zu sehen, wie sich Rechtsfragen im entscheidungsnotwendigen Detail auf soziologische Theorien oder Methoden der empirischen Sozialforschungen beziehen ließen.“ Eine Mehrheit der Forscher in allen drei Rechtsgebiete war dagegen überzeugt, dass das Gericht in seiner tagtäglichen Arbeit sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und Denkweisen nutzen konnte und sollte. Als Brücke zwischen Soziologie und Recht schlug man die „Folgenorientierung“ als Wandel von der „Input- zur Output-Orientierung“ vor oder auch, in der Begrifflichkeit Gunther Teubners, die „responsive Dogmatik“. Die Begriffe changierten und auch die Konzepte waren nicht immer klar voneinander abgegrenzt. Einigkeit herrschte aber, dass es Zeit sei, eine neue Methode zu entwickeln, mit der rationalisiert werden sollte, was Gerichte ohnehin versteckt immer getan hatten: die Folgen ihrer Normauslegung zu berücksichtigen. Auf dem Weg dorthin mussten einige Fragen beantwortet werden, wie die, welche Folgen – nur die für die Parteien oder auch die für die Gesellschaft (Umwelt? Arbeitsplätze?) – zu beachten sein. Mit Hilfe der neuen Methoden sollte das nun angeleitet, jenseits der verpönten „Alltagstheorien“ getan werden, Gerichte sollten ihre Entscheidung in die soziale Wirklichkeit einordnen, die Dogmatik sich den Anforderungen der Jetztzeit anpassen.
Davon ist wenig geblieben. Als Methode konnte sich die Folgenorientierung nicht etablieren. Dennoch ist sie nicht tot, im Gegenteil: Sie wird immer häufiger in Bezug genommen, auf Tagungen diskutiert, die responsive Dogmatik vorgeschlagen als Instrument zur Bewältigung von Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Daher lohnt es, die weitestgehend in Vergessenheit geratenen Anfänge der Debatte um Folgenorientierung zu beleuchten. Mein Vortrag ordnet sie wissenschaftshistorisch ein. Gefragt wird, was zeitgenössisch unter Folgenorientierung, auch in Abgrenzung zur responsiven Dogmatik, verstanden und was kritisiert wurde; thematisiert wird, ob und wie Folgenorientierung in der konkreten dogmatischen Arbeit umgesetzt wurde. So soll die Grundlage geschaffen werden, um über die Kontextabhängigkeit von (auch eigenen) Methodenvorstellungen, das Auseinanderfallen von gerichtlicher Praxis und wissenschaftlicher Analyse sowie Folgenorientierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft heute nachzudenken.
Time & Location
15 May 2024 | 6:00–7:30 p.m.
In-person & online
Henry Ford Building | Garystr. 35 | Konferenzraum II
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