Europarecht Aktuell: EU Kommission leitet Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein
News vom 10.06.2021
Die EU-Kommission leitet wegen des umstrittenen PSPP-Urteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu den Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) vom 05.05.2021 (das Urteil des BVerfG ist hier abrufbar; dazu BOB 123) ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein. Das war nicht zwingend geboten.
Am 09.06.2021 hat die Kommission beschlossen, ein Mahnschreiben mit der Aufforderung zur Stellungnahme an Deutschland zu richten. Hierbei handelt sich um die erste Stufe eines förmlichen Vertragsverletzungsverfahrens gem. Art. 258 AEUV.
Grund ist das PSPP-Urteil des BVerfG vom 05.05.2020, in welchem das BVerfG zum Schluss kommt, dass die Staatsanleihekäufe der EZB teilweise verfassungswidrig sind. Im Zuge einer Vorlage des BVerfG hatte der EuGH das Programm mit Urteil vom 11.12.2018 (Az. C-493/17) im Rahmen eines vom BVerfG initiierten Vorabentscheidungsverfahrens noch als europarechtskonform beurteilt (das Urteil des EuGH ist hier abrufbar) und keine Kompetenzverletzung der EZB feststellen können. Das sah das BVerfG anders und stellte einen ultra vires Akt fest (siehe auch BOB 123). Die Kommission ist nunmehr der Auffassung, dass das BVerfG einem Urteil des EuGHs seine Rechtswirkung in Deutschland abgesprochen habe und somit gegen den Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts verstoße.
Mit Beschluss vom 29. April 2021 hatte das BVerfG kürzlich zwei Vollstreckungsanträge zu seinem Urteil vom 5. Mai 2020 verworfen (hier abrufbar). Mit diesem Beschluss vom 29. April 2021 werde jedoch der Verstoß gegen den Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts nicht aufgehoben, so die Kommission.
Nach Ansicht der Kommission stellt das Urteil des BVerfG einen ernstzunehmenden Präzedenzfall sowohl für die künftige Praxis des Gerichts selbst als auch für die Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaaten dar (dazu: Calliess; sowie Pernice (PRO) und Möllers (CONTRA).
Deutschland hat nun zwei Monate Zeit, um auf den Brief der Kommission zu antworten. Falls die Kommission entscheidet, dass das Problem bis dahin nicht gelöst ist, kann sie eine formelle Aufforderung - eine so genannte mit Gründen versehene Stellungnahme - an Deutschland richten, innerhalb von zwei Monaten zu handeln. Sollte die Angelegenheit danach immer noch nicht gelöst sein, könnte der EuGH angerufen werden, um eine endgültige Entscheidung zu treffen. Kommt Deutschland dem Urteil nicht nach, droht ein Bußgeld. Unklar bleibt, wie die Bundesregierung reagieren kann. Anweisungen, wie das BVerfG zu entscheiden hat, sind jedenfalls nicht möglich (dazu: Calliess; sowie Pernice (PRO) und Möllers (CONTRA).
In einer einstündigen Panel-Diskussion, veranstaltet von der Landesvertretung NRW in Brüssel, diskutieren der ehemalige Präsident des BVerfG Prof. Dr. Andreas Voßkuhle und Prof. Dr. Christian Calliess das Verhältnis zwischen EuGH und BVerfG im Lichte des PSPP-Urteils einschließlich der Frage, wie weit der Anwendungsvorrang des EU-Rechts reicht und ob das von der Kommission angestrengte Vertragsverletzungsverfahren sinnvoll ist. Hier können Sie die Diskussion nachverfolgen: https://www.youtube.com/watch?v=BmwUz_0Vp1M
The EU Commission is initiating infringement proceedings against Germany on account of the controversial PSPP ruling by the German Federal Constitutional Court (BVerfG) on the European Central Bank's (ECB) bond purchases of May 5, 2021 (the BVerfG ruling is available here; see BOB 123). This was not mandatory.
On 09.06.2021, the Commission decided to send a letter of formal notice to Germany inviting it to submit its observations. This is the first stage of formal infringement proceedings pursuant to Article 258 TFEU.
The reason is the PSPP ruling of the BVerfG of 05.05.2020, in which the BVerfG concludes that the ECB's government bond purchases are partly unconstitutional. In the course of a submission by the BVerfG, the ECJ had still judged the program to be in conformity with European law in a ruling of 11.12.2018 (Case No. C-493/17) in preliminary ruling proceedings initiated by the BVerfG (the ECJ ruling can be accessed here) and was unable to establish any infringement of competence by the ECB. The BVerfG took a different view and found an ultra vires act (see also BOB 123). The Commission is now of the opinion that the BVerfG denied a judgment of the ECJ its legal effect in Germany and thus violated the principle of the primacy of EU law.
In its decision of April 29, 2021, the BVerfG had recently rejected two applications for enforcement of its judgment of May 5, 2020 (available here). However, this decision of April 29, 2021, does not annul the violation of the principle of primacy of EU law, the Commission said.
In the Commission's view, the BVerfG ruling sets a serious precedent both for the future practice of the court itself and for the constitutional courts of other Member States (cf: Calliess; as well as Pernice (PRO) and Möllers (CONTRA).
Germany now has two months to respond to the Commission's letter. If the Commission decides that the issue has not been resolved by then, it can issue a formal request - a so-called reasoned opinion - for Germany to act within two months. If the matter is still not resolved after that, it could be referred to the ECJ for a final ruling. If Germany fails to comply with the ruling, it could face a fine. It remains unclear how the German government can react. In any case, instructions on how the BVerfG should decide are not possible (cf: Calliess; as well as Pernice (PRO) and Möllers (CONTRA).
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