(nach BGH, NStZ 2001, 591)
Der 66-jährige T und seine Lebensgefährtin P schliefen in ihrer Wohnung. T hatte vor dem Zubettgehen mehrere Medikamente, darunter auch Schmerzmittel mit beruhigender bzw. bewusstseinstrübender Wirkung eingenommen. Gegen 0.45 Uhr läutete der betrunkene S, Schwiegersohn der P, an der Haustür, stürmte nach deren Öffnung bis zur Wohnungstür des T im zweiten Stock und trat diese gewaltsam ein. S hatte zu dieser Zeit eine BAK von 2,2 Promille; er neigte in alkoholisiertem Zustand zu Gewalttätigkeiten und hatte zuvor andernorts eine Auseinandersetzung mit seiner Ehefrau gehabt. Nachdem S in die Wohnung des T eingedrungen war, packte er seine Schwiegermutter P, beschimpfte sie und versuchte, sie aus der Wohnung zu ziehen. T versuchte beruhigend auf den ihm körperlich überlegenen S einzuwirken; dieser schubste T jedoch zurück, sodass dieser zu Boden fiel. Unter Beschimpfungen und der Drohung, P umzubringen, gelang es S, die sich heftig wehrende und laut schreiende P am Nachthemd und an den Haaren in das Treppenhaus zu ziehen, wo sie zu Boden ging. S zerrte P nun nach und nach die Treppe hinunter.
Daraufhin lief T in sein Schlafzimmer und nahm aus dem Nachttisch einen Revolver, den er zur Sicherheit unbefugt besaß und der mit einer scharfen Patrone geladen war. Er war „noch ganz leicht benommen“, da er kurz zuvor aus dem Schlaf gerissen worden war und die eingenommenen Medikamente „noch leicht wirkten“. Obwohl er selber vor Jahren die Patrone in den Revolver geladen hatte, war ihm diese Tatsache in der konkreten Situation nicht mehr bewusst. Im Treppenhaus hatte S die P, die sich immer wieder am Treppengeländer festzuhalten versuchte, inzwischen drei Treppenabsätze nach unten gezogen. Als T im Treppenhaus eintraf, trat S gerade mehrfach mit den Füßen auf die am Boden liegende P ein; er hielt sie dabei an den Haaren fest und zog daran; zudem beschimpfte er sie weiter. Ob er T mit dem Revolver in der Hand bemerkte, ließ sich nicht klären, aber auch nicht ausschließen. T befürchtete, P würde tödliche Verletzungen davontragen, und um weitere Verletzungshandlungen zu verhindern, richtete T aus einer Entfernung von weniger als zwei Metern den Revolver auf den Gesichtsbereich des S und zog den Abzug schnell hintereinander drei- bis viermal durch. Er hoffte, der S werde erschrecken und von der P ablassen. Bei der wiederholten Betätigung des Abzugs löste sich jedoch ein Schuss, durch welchen S zu Tode kam.
Strafbarkeit des T ?
Lösung:
Indem T mit dem Revolver auf den Gesichtsbereich des S zielte und mehrfach den Abzug betätigte, ohne sich zuvor vergewissert zu haben, dass sich keine Kugel in der Waffe befand, kann er sich nach § 222 StGB strafbar gemacht haben.
1. Mit dem Tod des S ist der tatbestandsmäßige Erfolg eingetreten.
2. Dies geschah kausal durch eine Handlung des T in Folge des Betätigen des Revolvers.
3. Dies müsste fahrlässig gewesen sein. Fahrlässig handelt, wer bei objektiver Vorhersehbarkeit eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung begeht, also die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.
a. Mangels vorhandener, ausdrücklicher Sorgfaltsnorm ist abzustellen auf den allgemeinen Maßstab des Verhaltens eines besonnenen und gewissenhaften Menschen in seiner konkreten Lage (ex ante) und seiner sozialen Rolle. Das Richten einer geladenen Schusswaffe auf einen anderen Menschen ist ein Verhalten, das die Rechtsordnung verbietet, insoweit es nie auszuschließen ist, dass sich ungewollt Schüsse lösen (vgl. Kretschmer, Jura 2002, 114 (115)).
b. Die Tötung des S müsste für T aber auch objektiv vorhersehbar gewesen sein. Objektiv vorhersehbar ist, was ein umsichtig handelnder Mensch unter den gegebenen Umständen aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung voraussehen kann. Der Umstand, dass ein einfaches Aufklappen der Revolvertrommel genügt hätte, um sich vom Ladezustand der Waffe zu überzeugen, ist zwar ein Indiz, kann für sich alleine wegen der Schnelligkeit des Geschehensablaufs aber alleine nicht genügen. Die Waffe war jedoch nicht zufällig dort, sondern sie lagerte für derartige Fälle extra im Nachttisch und war von T selbst geladen worden. Bereits aus der Zweckbestimmung hätte sich für einen objektiven Dritten die Vermutung ergeben können, dass die Waffe möglicherweise geladen ist. Dies zusammen mit der Möglichkeit, dies im Laufen zu Kontrollieren, ergibt die Vorhersehbarkeit des Todeserfolges zu dem Zeitpunkt, als der Abzug betätigt wurde.
4. Der Erfolg ist auch gerade durch diese Pflichtwidrigkeit zurechenbar eingetreten, sodass der Pflichtwidrigkeitszusammenhang und damit letztlich die Tatbestandsmäßigkeit zu bejahen ist.
Die Tat könnte aber gerechtfertigt sein. In Betracht kommt eine Nothilfehandlung, insoweit T der P helfen wollte. Fahrlässig herbeigeführte Erfolge sind nach den allgemeinen Rechtfertigungsgründen zu rechtfertigen, wenn es entweder ungewollte Auswirkungen einer Verteidigungsmaßnahme sind, die typischerweise mit der bestimmten Verteidigungshandlung verbunden sind (BGHSt 27, 313) oder wenn der Erfolg auch vorsätzlich hätte herbeigeführt werden dürfen. „Wäre der Abwehrende also bei gewollter Abgabe eines gezielten Schusses auf den Angreifer gerechtfertigt gewesen, dann muss diese Rechtfertigung erst recht und zur Vermeidung eines Wertungswiderspruchs auch dann greifen, wenn [sich ungewollt] ein Schuss löst“(BGH, NStZ 2001, 591 (592); ebenso bereits BGHSt 25, 229 (231); Geppert, Jura 1995, 103 (107); Kretschmer, Jura 2000, 267 (276); Kretschmer, Jura 2002,114; Roxin, AT I, § 24 Rn. 94; krit. Otto, NStZ 2001, 594). Es kommt nach letzterem also darauf an, ob T gerechtfertigt gewesen wäre, wenn er mit Kenntnis des Vorhandenseins der einen Kugel den Revolver mehrmals betätigt hätte.
1. § 32 II StGB verlangt zunächst das Vorliegen einer Nothilfelage, also eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffes. Mit dem Hinauszerren der P in das Treppenhaus und des Eintreten auf die P lag eine Beeinträchtigung rechtlich geschützter Interessen des P, namentlich ihrer körperlichen Unversehrtheit und durch das Drohen eines Aufschlagens des Kopfes auf den Treppenboden oder entstehende schwere Hals- und Wirbelsäulen-Schädigungen auch Lebensgefahren vor, die teils bereits begonnen hatten, teils unmittelbar bevorstanden und damit gegenwärtig waren. P war zudem seinerseits nicht gerechtfertigt, handelte also rechtswidrig, sodass eine Nothilfelage gegeben war.
2. T müsste aber auch eine Nothilfehandlung vorgenommen haben.
a. Hierzu ordnet § 32 Abs.2 StGB an, dass es sich um eine erforderliche Verteidigungshandlung gehandelt haben muss. Erforderlich war sie, wenn sie unter den gleich geeigneten Mitteln dasjenige darstellte, das am wenigsten in die Rechte des Angreifers eingriff.
Der Einsatz einer Schusswaffe stellt wegen deren Gefährlichkeit grundsätzlich immer erst das letzte Mittel der Verteidigung dar. Zuvor muss der Angreifer in der Regel die Abgabe eines Schusses androhen, ehe er sie lebensgefährlich einsetzt (BGHSt 26, 256 (258); BGH, StV 1999, 145 (146); BGH, NStZ 2001, 591 (593)). Ob dies geschehen ist, äußert der Sachverhalt nicht. Der Geschehensschilderung zufolge betrat T das Treppenhaus, sah den unter ihm befindlichen S mit der P, richtete die Waffe auf ihn und feuerte, als S die P weiter traktierte. Es ist jedoch denkbar, dass S es sehr wohl wahrnahm, dass T das Treppenhaus betreten hatte mit einer Waffe in der Hand, insoweit dies nicht geräuschlos vor sich gegangen sein wird. In diesem Fall wäre der S durch das „Vorzeigen“ der Waffe gerade in die Lage versetzt worden, die Bewaffnung des Verteidigers T wahrzunehmen und zu erkennen, dass dieser möglicherweise schießen würde, also gewarnt worden, wie es das Drohen herbeiführen soll. Ein „stillschweigendes Drohen“ wäre damit zu bejahen. Bestehen damit Sachverhaltszweifel, so ist in dubio pro reo von der tätergünstigeren Situation auszugehen und damit davon, dass S den T bemerkt hatte, ein „Drohen“ also erfolgte.
Vor dem Einsatz der Waffe muss aus diesem jedoch zunächst in der Regel ein Warnschuss abgegeben und dann diese durch einen Schuss auf weniger lebensgefährdende Bereiche des Körpers abgefeuert werden. In der Waffe befand sich jedoch nur eine Kugel, sodass ein Warnschuss zum Verlust der Verteidigungsmöglichkeit geführt hätte und damit nicht zu erfolgen brauchte. Hinsichtlich eines Schusses auf andere Körperbereiche ist zu beachten, dass der Verteidiger sich nicht auf ein zweifelhaftes Verteidigungsmittel verweisen lassen braucht, sondern das effektivste einsetzen darf (vgl. nur BGHSt 24, 356 (358); BGH, StV 1999, 143 (144); Jescheck/Weigend, AT, S. 344). Bei nur einer Kugel war ein Schuss in weniger gefährliche Körperbereiche nicht genauso geeignet, den Angriff abzuwehren, da das Mittel weiterer Verteidigung aufgegeben würde (vgl. BGHR StGB § 32 Abs.2 Erforderlichkeit 4 und 6 „letzte Patrone“; BGH, NStZ 2001, 591 (592 f.)).
Der Schuss war somit ein erforderliches Mittel, um P zu helfen.
b. Zweifel könnte man jedoch an der Gebotenheit. Unter diesem Oberbegriff werden die rechtsethischen Einschränkungen der Notwehr und Nothilfe zusammengefasst, bei denen eine Ausübung des Nothilferechts einen Rechtsmissbrauch darstellen würde.
Eine derartige könnte sich zunächst aus dem Gesichtspunkt der Verteidigung gegen den Angriff Schuldunfähiger ergeben. Die Schuldunfähigkeit des S nach § 20 StGB könnte sich aus einer krankhaften seelischen Störung wegen des Alkoholkonsums ergeben. Nach der Faustregel, die allgemein anerkannt ist, jedoch nicht schematisch angewandt werden sollte, liegt eine Schuldunfähigkeit bei etwa 3 Promille und eine verminderte Schuldunfähigkeit bei 2 Promille vor (Vgl. Tröndle/Fischer, StGB, § 20 Rn. 19). Mit seinen 2,2 Promille war S somit mangels zusätzlicher Anhaltspunkte einer geringeren Hemmschwelle lediglich vermindert schuldunfähig. Unterhalb der Schwelle absoluter Schuldunfähigkeit braucht der Verteidiger jedoch allenfalls geringfügige Einschränkungen seines Notwehrrechts / Nothilferechts hinnehmen (BayObLG, NStZ-RR 1999, 9; Kretschmer, Jura 2002, 114 (116); aA Roxin, AT I, § 15 Rn. 60). Dies beruht im wesentlichen darauf, dass nur gering Angetrunkene nicht nur Herr ihrer Sinne sind und damit das Notwehrrisiko selbst zu verantworten haben, sondern auch, dass im angetrunkenen Zustand die Aggressivität in der Regel noch verstärkt wird, was den Verteidiger eher zu effektiveren Verteidigungshandlungen zwingt, als dass er sich auf mildere begrenzen lassen muss. Dies wird auch vorliegend deutlich, neigte S doch gerade im angetrunkenen Zustand zu Gewalttätigkeiten.
Des weiteren kommt eine Nothilfeeinschränkung unter dem Gesichtspunkt einer familiären Verbundenheit in Betracht, zu einer Rücksichtnahme führen könnte. Sieht man den Hintergrund dieser Einschränkung vergleichbar zum Garantenverhältnis beim Unterlassungsdelikt im Vertrauensverhältnis, das eine gegenseitige Rücksichtnahme bedingt, so ist eine Notwehreinschränkung vorliegend zweifelhaft. S war der Schwiegersohn und damit, geht man vom Familienrecht aus, mit T und P noch nicht einmal verwandt, geschweige denn, dass zwischen beiden ein Vertrauensverhältnis bestand. Eine Nothilfeeinschränkung ist somit abzulehnen.
Die Nothilfehandlung war somit auch geboten.
3. Fraglich ist aber, ob T auch mit dem notwendigen subjektiven Verteidigungswillen gehandelt hat. Das grundsätzliche Erfordernis eines subjektiven Rechtfertigungselements ergibt sich systematisch wie teleologisch. In § 32 StGB heißt es einerseits bezeichnend, dass Notwehr die erforderliche Verteidigung ist, „um“ einen Angriff abzuwehren, was eine gewisse Finalität impliziert. Zum anderen ergibt sich aus § 16 I StGB, dass der Täter straffrei davon kommt, wenn er einen Umstand nicht kennt, der sein Verhalten rechtswidrig machen würde. Als Umkehrschluss muss sich dann aber auch ergeben, dass der Täter umgekehrt, wenn er einen Umstand nicht kennt, der sein Verhalten rechtmäßig machen würde, auch nicht in den Genuss der Rechtfertigung kommen soll. Dogmatisch beruht dieses Element auf dem mit dem Begehen einer Straftat verbundenen Vorliegen des Erfolgsunrechts und Handlungsunrechts. Durch eine objektiv gerechtfertigte Handlung entfällt kraft Anordnung der Rechtsordnung der Rechtsverstoß und damit das Erfolgsunrecht. Das Handlungsunrecht, herbeigeführt durch die bewusste Vornahme einer rechtswidrigen Handlung, kann der Täter hingegen nur neutralisieren, wenn ihm die Rechtfertigung durch die Verteidigungshandlung bewusst ist (vgl. hierzu Geppert, Jura 1995, 103 f.; Kretschmer, Jura 2002, 114 (117); Jescheck/Weigend, AT, S. 329).
Zweifelhaft ist jedoch, ob dieses Erfordernis auch bei einer fahrlässigen Tat gilt. Einige Autoren verneinen dies, da bei der Fahrlässigkeitstat ein eigenständiges Handlungsunrecht nicht bestehe, sondern es vielmehr nur in Verbindung mit dem Erfolgsunrecht bestehen könnte, reiche folgenlos gebliebenes, sorgfaltswidriges Handeln nicht aus, um Unrecht zu begründen – es gebe keinen Unterschied zwischen einem objektiv gerechtfertigten Sorgfaltspflichtverstoß und einem Sorgfaltspflichtverstoß, der von vornherein kein Rechtsgut beeinträchtige. Unrecht sei hiermit nicht verbunden (So Frisch, FS Lackner, 113 (130 ff.); Jescheck/Weigend, AT, S. 589; Kretschmer, Jura 2002, 114 (117); Stratenwerth, AT I, § 15 Rn. 42; Jakobs, AT, 11/30; Kühl, AT, § 17 Rn. 80). Andere verlangen auch bei Fahrlässigkeitstaten zumindest das Bewußtsein, in einer rechtfertigenden Situation zu handeln (Geppert, Jura 1995, 103 (107); Geppert, ZStW 83 (1971), 947 (979); LK/Hirsch, StGB, Vor § 32 Rn. 56; Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 44 Rn.18). Denn selbst bei der Fahrlässigkeitstat existiert mit der Sorgfaltspflichtverletzung ein Verhalten, das ein Handlungsunrecht nach sich zieht. Ob die Sorgfaltspflichtverletzung erfolgreich gegen die Rechtsordnung verstoße, ändere nichts an ihrem Charakter. Schließlich spricht auch das durch den obigen Erst-Recht-Satz (Erst recht Rechtfertigung bei der Fahrlässigkeit, wenn eine Rechtfertigung bei einer vorsätzlich vorgenommenen Verteidigungshandlung vorläge) zum Ausdruck kommende Stufenverhältnis zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit dafür, eine Rechtfertigung nur einheitlich zuzulassen.
Letztlich handelt es sich jedoch um einen akademischen Streit: Liegt das subjektive Rechtfertigungselement nicht vor, so gibt es wegen der objektiv gerechtfertigten Lage kein Erfolgsunrecht, wohl aber ein Handlungsunrecht. Dies ist der typische Fall des Versuchs, sodass bei fehlendem subjektiven Rechtsfertigungselement eine Versuchsstrafbarkeit anzunehmen ist und keine wegen vollendeter Tat (vgl. nur Wessels/Beulke, AT, Rn. 279; Jescheck/Weigend, AT, S. 330). Bei fahrlässigen Delikten ist der Versuch aber nicht strafbar. Dies bedeutet nichts anderes, als das bei fahrlässigen Delikten folgenloses Handlungsunrecht nicht strafbar ist; nichts anderes ist letztlich das Argument derjenigen, die ein subjektives Rechtfertigungselement bei fahrlässigen Taten nicht verlangen. So oder so führt bereits das Vorliegen der objektiven Rechtfertigungselemente zur Straflosigkeit.
III. Ergebnis
T hat sich damit nicht nach § 222 StGB strafbar gemacht.