Fall 23: Reden ist Silber, schweigen ist Tod

(BVerfG, NJW 2003, 1030; BGH, NStZ 2000, 147; BGH, NJW 2003, 3212 ff.)

S hatte sich nach mit Problemen belasteter, längerer Ehe dazu durchgerungen, ihren Ehemann W zu verlassen. Nach einem längeren Streit hatte sie ihn aus der Wohnung geschmissen und vier Wochen später ihren neuen Lebensgefährten P, einem Polizeibeamten, aufgenommen, mit dem sie nunmehr glücklich werden wollte. Die Scheidung von W sollte in den nächsten Wochen durchgesetzt werden.

Als sie abends mit P in ihrer Stammkneipe sitzt, hören beide den am Nachbartisch grölenden M. M ist wütend, da sein letzter Coup von W verpfiffen worden sei. Dafür werde er ihm morgen eine Abreibung verpassen. So geschieht es dann auch, dass am nächsten Morgen M den W mehrfach ins Gesicht und in die Magengegend schlägt. Weder S noch P hatten den W gewarnt, obwohl ihnen dies möglich gewesen wäre.

Strafbarkeit von S und P ?

 

Lösung:

A. Strafbarkeit der S

I. Strafbarkeit nach §§ 223 I, 13 I StGB

Indem S ihren Ehemann nicht M dahingehend warnt, dass W ihn am nächsten Morgen eine „Abreibung“ verpassen wolle, sodass M von W mehrfach ins Gesicht und in die Magengegend geschlagen wird, kann sich S nach §§ 223 I, 13 I StGB strafbar gemacht haben.

1. Objektiver Tatbestand

a. Mit den Schlägen in die Gesichts- und Magengegend wurde W übel und unangemessen behandelt und so körperlich misshandelt und bei ihm wurde ein krankhafter Zustand hervorgerufen, also eine Gesundheitsbeschädigung.

b. Dies erfolgte jedoch durch den W und nicht der S. Sie könnte die Tat einzig durch Unterlassen begangen haben. Hierzu müsste sie eine objektiv erforderliche und gebotene Handlung trotz physisch realer Möglichkeit nicht vorgenommen haben. Der S war es möglich, den M rechtzeitig zu warnen und so aufgrund der Kenntnis von der bevorstehenden Prügelei Unheil von M abzuwenden. Dennoch blieb sie untätig.

c. Dies müsste für den Erfolg kausal gewesen sein. Wie dieser Zusammenhang zu bestimmen ist, ist streitig. Während einige entsprechend der Risikoerhöhungstheorie beim Fahrlässigkeitsdelikt eine Risikoverringerungstheorie in der Weise vertreten, dass jedes Unterlassen erfolgsursächlich war, wenn es das Risiko des Erfolgseintritts verringert hätte (Otto, Jura 2001, 275 (277); Roxin, AT II, § 31 Rn. 54). Demgegenüber wird – in richtiger Beachtung des „in dubio pro reo“ - Satzes – überwiegend verlangt, dass die rechtlich erwartete Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der tatbestandsmäßige Erfolg in seiner konkreten Gestalt mit an Sicherheit gnzender Wahrscheinlichkeit entfiele (BGHSt 6, 1 (2); 37, 106 (126); 43, 381 (397); BGH, NStZ 2000, 414; BGH, NJW 2000, 2754 (2757); Lackner/Kühl, StGB, Vor § 13 Rn.12; Wessels/Beulke, StGB, Rn.711; Sch/Schr/Stree, StGB, § 13 Rn.61; LK/Jescheck, StGB, § 13 Rn. 15). Insoweit es zur Schlägerei sogar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gekommen wäre, wovon lebensnah ausgegangen werden muss, kommt es auf den Streit nicht an. Das Unterlassen war (hypothetisch) kausal.

d. Unabhängig von einer eventuellen Garantenstellung und der Gleichstellungsklausel müsste S aber auch Täterin des Unterlassungsdelikts sein. Die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme beim Unterlassungsdelikt ist streitig (Vgl. Übersicht bei Sowada, Jura 1986, 399 ff.; Geppert, Jura 1999, 266 (271)).

Die Rechtsprechung stellt auch hier auf subjektiv darauf ab, ob der Täter mit Täterwillen gehandelt hat, wofür insbesondere ein Interesse am Taterfolg als Indiz wirken soll (BGHSt 13, 162 (166); 43, 381 (396); BGH, NStZ 1985, 25; BGH, NStZ 1992, 31). Dies führt jedoch nicht nur zu unlösbaren Beweisschwierigkeiten, sondern auch zu einer gewissen Willkür, die einer rechtsstaatlichen Strafverfolgung fremd sein sollte.

Eine verbreitete Ansicht stellt auch hier auf die Tatherrschaft als ausschlaggebendes Kriterien ab und fragt danach, ob der Unterlassende das Geschehen in der Hand hält, es beherrscht und und eine Zentralfigur und nicht nur Randfigur ist (Wessels/Beulke, AT, Rn. 734; Maurach/Gössel/Zipf, AT/2, § 49 Rn. 87; MüKo/Joecks, StGB, § 25 Rn. 236). Hiernach  würde der untätig bleibende Garant bei durch Menschenhand bewirkten Angriffen jedoch besser gestellt als bei durch Naturkatastrophen, sodass auch diese Sichtweise abzulehnen ist.

Andere sehen im unterlassenden Garanten aufgrund seiner Stellung im Verhältnis zum handelnden Täter stets nur eine Randfigur, da es der handelnde Täter ist, der das Geschehen beherrscht, während der Unterlassende allenfalls Einfluss, das Geschehen aber niemals beherrschen könne; er sei daher nur Gehilfe (Gallas, JZ 1960, 686 (687); Jescheck/Weigend, AT, S. 696). Diese Ansicht ist jedoch nur eine konsequente Fortführung der Anwendung der Tatherrschaftskriterien in den meisten, nicht aber in allen Fällen. So ist auch hier der Fall einer Gefahrbegründung durch eine Naturkatastrophe eine Konstellation, die nicht sachgerecht gelöst werden kann.

Die Vertreter der Lehre von den Pflichtdelikten sehen im Unterlassungsdelikt aufgrund der Garantenstellung eine dem Täter obliegende Sonderpflicht, deren Verletzung die berechtigte Erwartung des Opfers enttäuscht und so das Unrecht der Tat statuiere. Jedes Unterlassen sei daher täterschaftliches (Heinrich, Rechtsgutszugriff und Entscheidungsträgerschaft, S. 320; Roxin, TuT, S. 695; Roxin, AT II, § 31 Rn. 140 ff.). Eine derartige Sichtweise würde jedoch einem Garanten die Strafmilderungsmöglichkeit  des § 27 II StGB gänzlich verwehren, obwohl das Gesetz eine derart „radikale“ Lösung weder vorsieht noch sie in jedem Einzelfall angemessen wäre.

Vorzugswürdig demgegenüber ist eine Unterscheidung nach Garantenstellungen. Der Beschützergarant hat dafür Sorge zu tragen, dass einem von ihm zu beschützenden Rechtsgut kein Schaden geschieht, sodass er dafür einzustehen hat, dass es zu keiner Verletzung kommt. Er ist daher bei einer Unterlassung stets als Unterlassungstäter anzusehen. Demgegenüber verdient der Überwachergarant, der für die aus der Beherrschung von Gefahrenquellen entstehenden Gefahrrealisierungen einzustehen hat, nur eine unrechtsmildere Tat begeht und als Gehilfe anzusehen ist (Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz, S. 138; Geppert, Jura 1999, 266 (271); Sch/Schr/Cramer/Heine, StGB, Vor § 25 Rn. 103 ff.; Herzberg, TuT, S. 82 ff.).

Sollte S eine Garantenstellung aufgrund der Ehe mit M haben, so wäre sie Beschützergarantin gewesen und würde als Täterin haften.

e. Fraglich ist somit, ob S aufgrund der zwar noch bestehenden, aber kurz vor der Scheidung befindlichen Ehe eine Garantenstellung trifft. Einerseits könnte man formell auf die gesetzliche Regelung des § 1353 I 2 BGB abstellen, wonach Eheleute „füreinander Verantwortung“ tragen (so Jakobs, AT, S. 823; Welzel, Dt. Strafrecht, S. 217; Geilen, FamRZ 1961, 148). Hiernach wäre S trotz des Getrenntlebens und der bevorstehenden Scheidung Garantin gewesen.

Hingegen könnte man auf die tatsächliche Beschützerstellung abstellen unter Berücksichtigung eines bestehenden Vertrauensverhältnisses, das beim Opfer das begründete Vertrauen erweckt, der Unterlassende werde ihm in der Gefahrensituation Beistand leisten (Kühl, AT, § 18 Rn. 56 ff.; SK/Rudolphi, StGB, § 13 Rn.51). Hiernach wäre eine Beschützerstellung der S zu verneinen.

Der Bundesgerichtshof hat nunmehr zwar grundsätzlich an einem Abstellen auf den Gesetzestext festgehalten, aus dem Zusammenhang der familiären Vorschriften aber Einschränkungen hergeleitet: „Denn für die Bestimmung der Grenzen der strafrechtlichen Beistandspflicht dürfen bei diesem Ansatz die gesetzlichen Regelungen, aus denen sich Beschränkungen der Pflicht zu ehelicher Lebensgemeinschaft ergeben, nicht außer Betracht bleiben. [...] Nach § 1565 I 2 BGB ist die Ehe gescheitert, wenn die Lebensgemeinschaft nicht mehr besteht und nicht erwartet werden kann, dass die Ehegatten sie wiederherstellen. Das Scheitern der Ehe hat nach § 1353 II BGB zur Folge, dass die Rechtspflicht zur ehelichen Lebensgemeinschaft nicht mehr besteht. Die danach erforderliche ernsthafte Aufgabe der ehelichen Lebensgemeinschaft, die auch der strafrechtlichen Beistandspflicht ihre rechtliche Grundlage entzieht, setzt dabei nicht voraus, dass die Ehegatten ein Jahr lang getrennt leben. Dieser Wertung steht § 1566 I BGB nicht entgegen. Danach wird das Scheitern der Ehe zwar unwiderlegbar vermutet, wenn die Ehegatten seit einem Jahr getrennt leben und beide Ehegatten die Scheidung beantragt oder der Antragsgegner der Scheidung zustimmt. Bei dieser Vorschrift handelt es sich aber nur um eine zwingende Beweisregel für das Scheitern der Ehe, die das Gericht von der Feststellung der Zerrüttung entlastet. Sie schließt die Annahme eines früheren Scheitern [...] indes nicht aus.“ (BGH, NJW 2003, 3212 (3214) mit Anm. Geppert, JK 02/04, StGB § 13/37). So kommt das Gericht zum Schluss: „Dementsprechend endet die strafrechtliche Garantenpflicht unter Eheleuten, wenn sich ein Ehegatte vom anderen in der ernsthaften Absicht getrennt hat, die eheliche Lebensgemeinschaft nicht wiederherzustellen“ (BGH, NJW 2003, 3212 (3114); vgl. auch zur Garantenstellung unter Geschwistern LG Kiel, NStZ 2004, 157 ff.).

Legt man diese gesetzliche Wertung zugrunde, so hatte S bereits die Scheidung beantragt und lebte von M getrennt, zusammen mit ihrem neuen Lebensgefährten. Eine stafrechtliche Garantenpflicht bestand folglich nicht mehr.

2. Ergebnis

Mangels Garantenstellung hat sich S somit nicht nach §§ 223 I, 13 I, 25 I Var.1 StGB strafbar gemacht.

 

II. Strafbarkeit nach § 323c StGB

S könnte sich jedoch dadurch, dass sie ihren Ehemann nicht vor der drohenden „Abreibung“ warnte, nach § 323 c StGB strafbar gemacht haben. Dies würde jedoch einen Unglücksfall voraussetzen. Ein Unglücksfall ist ein plötzliches äußeres Ereignis, das eine erhebliche Gefahr für Personen oder Sachen bringt oder zu bringen droht (Lackner/Kühl, StGB, § 323c Rn.2). Drohende Gewalttaten fallen zwar auch hierunter, aber einzig, wenn sie unmittelbar bevorstehen (vgl. BGHSt 3, 65). Zu dieser zeitlichen Nähe kommt durch das Wort „bei“ auch eine räumliche Nähebeziehung (Lackner/Kühl, StGB, § 323c Rn.3). Alleine der Umstand, dass am nächsten Tag der W den M verprügeln wollte, stellt damit für sich noch keinen Unglücksfall dar. Eine Strafbarkeit nach § 323c StGB scheidet aus.

 

III. Strafbarkeit nach § 138 I StGB

Eine Strafbarkeit nach § 138 I StGB scheidet mangels Katalogtat aus.

 

B. Strafbarkeit des P

I. Strafbarkeit nach §§ 223 I, 13 I, 25 I Var.1 StGB

1. Objektiver Tatbestand

a. Mit den Schlägen des W gegen M, die den M körperlich misshandeln und ihn an der Gesundheit beschädigen, liegt der Körperverletzungserfolg vor.

b. Dieser wurde jedoch durch die Schläge des W hervorgerufen, sodass P einzig durch Unterlassen für den Taterfolg haften könnte. Er hatte wie die S erfahren, dass W den M verprügeln würde und hätte die Möglichkeit gehabt, M zu warnen. Dennoch blieb er untätig.

c. Bei lebensnaher Sachverhaltsauslegung ist davon auszugehen, dass dies für den Erfolgseintritt hypothetisch kausal war.

d. Fraglich ist jedoch, ob P eine Garantenstellung im Verhältnis zum M besaß. Mit diesem stand er zwar nicht in einem personenrechtlichen Verhältnis, P ist jedoch Polizeibeamter. Die Kenntnis von der bevorstehenden Schlägerei erhielt er aber im Rahmen eines Barbesuchs mit seiner Freundin, also während seiner Freizeitbeschäftigung. Ob bei außerdienstlicher Kenntniserlangung ein Polizeibeamter schützend einzuschreiten hat, ist seit jeher umstritten (vgl. hierzu BGH, NStZ 2000, 147 mit Anm. Otto, JK 00, StGB § 13/29; OLG Köln, NJW 1981, 1794 mit Anm. Geppert, JK, StGB § 258a/1; OLG Karlsruhe, NStZ 1988, 503 mit Anm. Otto, JK 89, StGB § 258a/2; OLG Koblenz, NStZ-RR 1998, 332 mit Anm. Geppert, JK 99, StGB § 258/13; Laubenthal, JuS 1993, 907).

Früher wurde noch vertreten, dass Staatsanwälte und Polizeibeamte „immer im Dienst“ seien (RG, JW 1933, 963), was angesichts des Art. 1 Abs.1, 2 Abs.1 GG nicht haltbar ist und auch nicht mehr vertreten wird.

Demgegenüber stehen jene, die die Verpflichtungen zur Sicherung des Legalitätsprinzips nicht den einzelnen Personen (Polizeibeamten) beimessen, sondern der Institution Polizei (Rieß in Löwe/Rosenberg, StPO, 24.A., § 160 Rn.29; SK/Wohlers, StPO, § 158 Rn. 12 ff.; Geerds, Schröder-Gedächtnisschrift, S. 389 ff.). Gestützt werden sie durch die Entstehungsgeschichte der §§ 152, 160 StPO (Anterist, Anzeigepflicht und Privatsphäre des Staatsanwaltes, S. 66 f.) und das Verfassungsrecht, dass aus Gründen des Persönlichkeitsrechts nicht jede Kenntniserlangung ausreichen lässt, an bestimmte Einschränkungen wegen Art. 103 Abs.2 GG aber strenge Anforderungen stellt. Da es jedoch keinen Unterschied machen könne, ob der Polizeibeamte die Straftat nicht verhindert oder ihn hinterher nicht festnimmt, ergibt sich zumindest in Fällen, in denen der Beamte allgemein sachlich zuständig ist, eine Nähe zwischen Beihilfe und Strafvereitelung, die in gewissem Rahmen eine Bestrafung erlauben muss.

An der fehlenden Bestimmtheit scheiterte auch der erste Präzisierungsentwurf einer langjährigen Rechtsprechung, die eine Garantenstellung bei Straftaten bejahte, die „nach ihrer Art oder nach ihrem Umfang die Belange der Öffentlichkeit und der Volksgesamtheit in besonderem Maße berührt“ (RGSt 70, 252; BGHSt 5, 229; 12, 277 (280 f.); OLG Karlsruhe, NStZ 1988, 503 mit Anm. Otto, JK 89, StGB § 258a/2).

Eine Präzisierung erfolgte erst mit BGHSt 38, 388 und BGH, NStZ 2000, 147 mit Anm. Otto, JK 00, StGB § 13/29, mit der der Bundesgerichtshof der vermittelnden Position im Schrifttum, sich an § 138 StGB zu orientieren (Geppert, Jura 1982, 148; Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. A., § 37 Rn.3; andere wollen § 100a StPO heranziehen wie LK/Ruß, StGB, 11.A., § 258a Rn.7, was vor dem Hintergrund von BVerfG, NJW 2004, 999 ff. aber mit Vorsicht zu genießen ist). Außerhalb von § 138 StGB soll sich eine Garantenstellung nur ergeben bei Dauerdelikten, die während der Dienstausübung fortwirken oder „erheblichen Straftaten gegen die Umwelt, Delikte mit hohem wirtschaftlichem Schaden oder besonderem Unrechtsgehalt“ (BGHSt 38, 388 (391 f.)).

Bei einer einfachen Körperverletzung handelt es sich jedoch weder um eine Katalogtat iSd § 138 StGB, noch um ein Dauerdelikt, sodass eine Garantenstellung ausscheidet.

2. Ergebnis

P hat sich somit nicht nach §§ 223 I, 13 I, 25 I Var.1 StGB strafbar gemacht.

 

II. § 138 I StGB und § 323c StGB

Wie oben scheidet eine Strafbarkeit nach § 138 I StGB mangels Katalogtat und jene nach § 323 c StGB mangels Unglücksfalls aus.

 

C. Gesamtergebnis

S und P bleiben straflos.