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31.05.2022 - Ulrich von Klinggräff: Strafverteidigung - Grundlagen und Selbstverständnis

31.05.2022

Von Clara Timphus und Liridona Zena

Den Einstieg in die Gastvorträge von Strafverteidiger*innen in der Law Clinic macht Ulrich von Klinggräff. Herr von Klinggräff seit ungefähr 25 Jahren als Strafverteidiger tätig, er ist Mitglied der Berliner Strafverteidigungsvereinigung und im Anwaltsnotdienst, sowie bei Demonstrationsbeobachtungen aktiv.

Ulrich von Klinggräff lädt dazu zur offenen Diskussion über das Selbstverständnis der Strafverteidigung mit den Studierenden ein und betont, dass dieses Thema Strafverteidiger*innen in Ihren Laufbahnen fortlaufend beschäftigt.

Die erste Frage, die diskutiert wird, ist die Frage der Wahrheit innerhalb des Strafverfahrens: Geht es bei dem Gerichtsverfahren wirklich um die objektive Wahrheitsfindung? Die Besprechung dazu beginnt mit dem Begriff der materiellen und der prozessualen Wahrheit. Diese materielle Wahrheit muss mit den innerhalb des Strafverfahrens zulässigen Mitteln ermittelt und bewiesen werden. Im Strafverfahren geht es um die prozessuale Wahrheit, also die Ermittlung der Wahrheit unter den Bedingungen der Strafprozessordnung.

Die gesetzlichen Grenzen sind für Strafverteidiger*innen oft nicht klar zu bestimmen. Da das Ziel der Strafverteidigung gerade die Verhinderung oder Minderung einer Bestrafung ist bewegen sich Handlungen der Strafverteidigung häufig auf der Grenze zur Strafvereitelung. So ist es das Recht eines/r Angeklagten, auch lügen zu dürfen. Anders aber, wenn ein/e Verteidigerin sich für den/die Mandantin eine Aussage ausdenkt und in dem Bewusstsein vor Gericht vorträgt, dass es sich um eine unwahre Einlassung handelt. Trotzdem ist dies laut Herrn von Klinggräff in Realität häufige Praxis von Strafverteidiger*innen.

Dies führt das Gespräch zur nächsten diskutierten Frage: Ist es von Vorteil für die Strafverteidigung, die objektive Wahrheit zu kennen?

Hier wird zunächst die Frage diskutiert, wie sich das Wissen um die wahren Ereignisse auf die Verteidigung auswirkt. In manchen Fällen ist die Kenntnis über das tatsächliche Geschehnis eine Voraussetzung, um Einschätzungen bezüglich bestimmter Beweismittel und Ermittlungsansätze zu tätigen. Beispielsweise könnte vor der Stellung eines Beweisantrags relevant sein zu wissen, ob das Beweismittel für den Mandanten be- oder entlastend ist. In anderen Fällen ist dies für die Verteidigungsstrategie kaum relevant, da die Verteidigung vollständig auf den Akten aufgebaut werden kann, die letztlich auch das Wissen der Staatsanwaltschaft und des Gerichtes wiederspiegelt.

Andererseits könnte sich das Wissen um den wahren Sachverhalt auch auf die innere Einstellung des*der Verteidiger*in auswirken. Das positive Wissen darum, dass ein*e Mandant*in eine besonders schwere Straftat begangen hat, könnte einen negativen Einfluss darauf haben, ob man es mit seinem Gewissen vereinbaren kann das Mandat anzunehmen. Gerade aus diesen Grund könnte ein Unwissen von Vorteilsein, weil kein innerer Konflikt für den*die Verteidiger*in ausgelöst wird und eine objektivere Verteidigung möglich ist.

Letztendlich steht hinter dem Sachverhalt und der Beweislage immer ein echter Mensch, dessen vorgeworfene Straftat einen erklärenden Hintergrund besitzen könnte. Diesen herauszufinden und die wirkliche Interessenlage des Mandanten herauszuarbeiten ist auch die besondere Aufgabe und Möglichkeit der Strafverteidigung. Gerade das Gespräch mit den Mandant*innen ist für die Strafverteidigung daher eine besondere Chance.

Dies führt zur Besprechung einer zentralen Frage: Was ist eigentlich die Aufgabe der Prozessbeteiligten, insbesondere der Strafverteidigung?

Ulrich von Klinggräff bespricht zunächst mit den Studierenden die Rollen der drei Beteiligten des Strafprozesses, dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung.

Das Gericht ist für die Durchführung des Hauptverfahrens und der Wahrheitsfindung und für das Urteil zuständig. Es hat eine neutrale Rolle und gem. §244 II StPO eine gerichtliche Aufklärungspflicht die objektiv sein muss.

Die Staatsanwaltschaft ist eigentlich auch ein neutrales Organ, das gemäß §160 II StPO mit der neutralen Wahrheitsfindung betraut ist. Im Idealfall ist die Staatsanwaltschaft auch ein solches neutrales Organ. In Realität ist die Staatsanwaltschaft zwar nominell „Herrin des Ermittlungsverfahrens“, erhält aber zumeist die Ermittlungsergebnisse nur von der primär ermittelnden Polizei und entschiedet auf Grundlage dieser über die Anklage. Wenn sie einen hinreichenden Tatverdacht bestätigt, ist sie nicht mehr als objektiv anzusehen, da sie bereits eine Wertung getroffen hat und sich für eine Ermittlungshypothese entschieden hat. Daher befragt die Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung eher mit Bestätigungstendenz hinsichtlich der Schuld des Angeklagten.

Die Strafverteidigung wird ebenfalls als Organ der Rechtspflege bezeichnet. Doch was bedeutet die Bezeichnung Organ der Rechtspflege?

Die Verteidigung muss in Rahmen des Gesetzes handeln und ist ein wesentlicher Bestandteil des Strafprozesses. Sie wirkt jedoch auch als Korrektiv zur großen Übermacht des Staates im Strafverfahren weswegen sie gleichzeitig als Hüterin der Rechtsstaatlichkeit wirkt.

Hierzu erklärt Ulrich von Klinggräff eine Entwicklungstendenz im Selbstverständnis der Strafverteidigung. Einerseits wird die Strafverteidigung als Organ betrachtet, das der Wahrung des ordnungsgemäßen Strafverfahrens, der Prozessökonomie und der objektiven Wahrheitsfindung verpflichtet ist. Dieses Selbstverständnis war in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts noch vorherrschend. Andererseits existiert ein Selbstverständnis von Strafverteidiger*innen als rein einseitige Interessenvertretung der Mandant*innen, die deren Interessen verpflichtet ist. Seit den 1950er Jahren verschiebt die Tendenz sich zunehmend dahin, sich als einseitige Interessenvertretung der Mandant*innen zu verstehen. Mit diesem Selbstverständnis ist es eher nicht zu vereinbaren zu sehr mit der Staatsanwaltschaft und dem Gericht in einem Übermaß zu kooperieren und um des friedlichen Strafverfahrens Willen Kompromisse zu schließen. Im Gegenteil kann es auch legitim sein, die Prozessökonomie mit Absicht zu behindern, um Gesprächsbereitschaft beim Gericht hervorzurufen. Hier wird der Begriff der „Konfliktverteidigung“ eher als „rethorischer Kampfbegriff“ verwendet, genauso könnte man diese Methoden als engagierte Verteidigung ansehen.

Ulrich von Klinggräff zitiert zum Selbstverständnis der Verteidigung Hans Dahs: „Verteidigung ist Kampf, Kampf um die Rechte des Beschuldigten im Widerstreit mit den Organen des Staates, die dem Auftrag zur Verfolgung von Straftaten zu genügen haben. Im Strafverfahren bringt der Staat gegen persönliche Freiheit und Vermögen des einzelnen seine Machtmittel mit einer Gewalt zum Einsatz, wie das sonst allenfalls noch im Bereich der Wehrhoheit geschieht.“

Dieses Zitat stellt die besondere Rolle der Verteidigung als Interessenvertretung der Mandant*innen heraus. Diese befinden sich als Beschuldigte in einer sehr außergewöhnlichen und einschüchternden Situation. Im Gegensatz zu den Ermittler*innen der Polizei, denen ein großes Arsenal an Befugnissen und Mitteln zur Verfügung steht, steht den Beschuldigten im Verfahren lediglich die Verteidigung zur Seite, zumeist eine einzelne Person, die im Vergleich mit anderen Rechtssystemen im deutschen Strafverfahren mit sehr geringen Mitteln und Befugnissen ausgestattet ist. Außerdem wird den Ermittlungsergebnissen der Polizei und Polizeizeug*innen von Gerichten meist unbegrenztes Vertrauen entgegengebracht und diese hätten dazu die besondere Berechtigung zur Vorbereitung auf die Zeugenaussage. Dieser Machtposition gegenüber kann man sich als Verteidiger*in hoffnungslos unterlegen fühlen, es ist also eine entscheidende Aufgabe der Verteidigung, Strategien zu entwickeln diese Übermacht zu überwinden und das Bewusstsein der Gerichte vor allem für das oft unangemessen übermäßige Vertrauen in Polizeizeug*innen zu schärfen. Dafür muss die Verteidigung wenn notwendig auch unangenehme Methoden anwenden, da sie durch ihre geringen Möglichkeiten nicht selten dazu gezwungen ist.

Besonders wichtige Aufgabe der Verteidigung ist es, das individuelle Interesse der Mandant*innen herauszuarbeiten und zu verfolgen. Dieses muss nicht unbedingt ein Freispruch sein, sondern kann beispielsweise auch die Verurteilung anstelle einer anderen Person sein. Weiterhin könnten Mandant*innen das Ziel verfolgen, im öffentlichen Verfahren eine politische Botschaft in die Öffentlichkeit zu tragen. Im Gespräch der Studierenden kristallisiert sich heraus, dass die Unterstützung einer politischen Botschaft durch die Verteidigung problematisch sein kann, abhängig von der konkreten politischen Botschaft. Manche politischen Ansichten, die moralisch als unhaltbar anzusehen sind muss man als Verteidiger*in auch ablehnen im Verfahren zu unterstützen.

Dies führt zur letzten diskutierten Frage der Stunde mit Ulrich von Klinggräff: Kann oder muss man die Annahme von Mandaten nach seinem Gewissen entscheiden?

Diese Frage kann natürlich nicht abschließend beantwortet werden. Einerseits ist die Einstellung nicht selten, dass es zum Beruf des*der Strafverteidiger*in gehöre jeden zu verteidigen, da gem. § 137 StPO jeder ein Recht auf Verteidigung hat. Anderseits kann man jede*r Strafverteidiger*in persönliche Grenzen ziehen und zum Beispiel bei Nationalsozialistischer Doktrin motivierten Verbrechen nicht annehmen. Diese Grundsatzentscheidung sollte allerdings frühzeitig getroffen werden.

Mit diesem Thema beschließt Ulrich von Klinggräff die Unterhaltung zum Thema Selbstverständnis der Strafverteidigung. Als sein persönliches Selbstverständnis zeigt sich, dass er die Strafverteidigung vor allem als Interessenvertretung der Mandant*innen sieht. Der „Kampf“ der Strafverteidigung für diese Interessen gegen einen mit mächtigen Mitteln ausgestatteten Staat und die Unterstützung der Mandanten im Gespräch und bei deren besonderen Interessen sind dabei für ihn besonders wichtig.