Klimanotstand Sachverhalt
Im Jahr 2026 sieht sich die Welt einem Klimawandel gegenüber, der schneller als prognostiziert voranschreitet. Während im Mittelmeerraum starke Trockenheit Ernteausfälle und Waldbrände befördert, werden deutsche Städte von Überschwemmungen getroffen, welche die Hochwasserereignisse der Jahre 2013 und 2017 als geringfügig erscheinen lassen. Als im Februar 2026 die Nordseeküste erneut von einer Sturmflut getroffen wird, die noch unbestätigten Berichten zufolge über 300 Todesopfer und Schäden in Milliardenhöhe verursacht, bittet die Bundesregierung den Bundestag um die Erklärung eines Klimanotstands. Zwar habe der Kanzler selbst bis vor kurzem noch am Klimawandel gezweifelt, nun aber sei ihm die Bedeutung bewusst geworden. Der Bundestag solle beschließen:
Art. 1
Die menschengemachte Klimakrise ist Realität. Die bisher ergriffenen Maßnahmen sind unzureichend, um dieser Herausforderung zu begegnen.
Art. 2
Die Bundesregierung wird ermächtigt, Rechtsverordnungen zu erlassen, die sie auf dem Gebiet der Wirtschaft, zur Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung, zur Förderung der land- und forstwirtschaftlichen Erzeugung, für die Sicherung der Ernährung, die Ein- und Ausfuhr land- und forstwirtschaftlicher Erzeugnisse, die Hochsee- und Küstenfischerei, den Küstenschutz, den Straßenverkehr, das Kraftfahrwesen, den Naturschutz und die Landschaftspflege, den Wasserhaushalt, im Recht der Lebensmittel, im Recht der Enteignung, der Überführung von Grundeigentum in Gemeineigentum sowie im Strafrecht und im bürgerlichen Recht für erforderlich und dringend erachtet, um den Herausforderungen des Klimawandels und seinen Folgen zu begegnen.
Art. 3
Art. 70 Abs. 1 GG wird folgender Satz 2 angefügt:
„Bundesgesetze können auch durch die Bundesregierung beschlossen werden. Die von der Bundesregierung beschlossenen Bundesgesetze werden vom Bundeskanzler ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet. Sie treten, soweit sie nichts anderes bestimmen, mit dem auf die Verkündung folgenden Tage in Kraft.“
Art. 4
Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Verkündung in Kraft. Es tritt mit dem 1. April 2030 außer Kraft; es tritt ferner außer Kraft, wenn die gegenwärtige Bundesregierung durch eine andere abgelöst wird.
Dieses Gesetz zur „Behebung des Klimanotstands durch eine vereinfachte Gesetzgebung“ (KlimaNotG) dient laut der Bundesregierung einer Verschlankung des Staatsapparats, um sich den fundamentalen Herausforderungen tatkräftig stellen zu können. Die Bundesgesetzgebung nach den bisherigen Art. 70 ff. GG habe sich für Notzeiten als ungangbar erwiesen. Dass eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages nunmehr der Bundesregierung – in den Schranken, die im Gesetz klar umrissenen seien – die Mittel an die Hand gebe, um die gegenwärtige Krise anzugehen, sei ein Vertrauensbeweis der Volksvertretung in die gewählte Regierung. Der Gesetzgebungsnotstand nach Art. 81 GG und der Verteidigungsfall nach Art. 53a, 115a ff. GG seien evident zu schwerfällig und nicht auf den hier einschlägigen Fall anwendbar. Dieser sei auch gar nicht voraussehbar gewesen bei Erlass des Grundgesetzes. Eine dynamische Anpassung sei geboten. Die Rechte des Bundestages würden in jedem Fall gewahrt, insofern dieser durch die Bundesregierung erlassene Rechtsverordnungen und Gesetze oder das KlimaNotG jederzeit aufheben könne. Ohnehin sei die Ermächtigung zeitlich begrenzt.
Am gleichen Tag leitet die Bundesregierung dem Bundestag folgendes Gesetz „zur Stärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit“ (VerfStarkG) zu, das – nach einer Reihe von Entscheidungen zu Lasten der Regierung – schon länger in Arbeit war:
§ 1
§ 2 Abs. 1 BVerfGG wird wie folgt neugefasst:
„Das Bundesverfassungsgericht besteht aus vier Senaten.“
§ 2
§ 6 Abs. 1 S. 2 BVerfGG wird wie folgt neu gefasst:
„Zum Richter bzw. zur Richterin ist gewählt, wer eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt.“
§ 3
§ 7 BVerfGG wird wie folgt neu gefasst:
„Die vom Bundesrat zu berufenden Richter/innen werden mit der Mehrheit der Stimmen des Bundesrates gewählt.“
§ 4
§ 15 Abs. 4 BVerfGG wird um folgenden Satz 4 ergänzt:
„Zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung der Bundesregierung bedarf es eines einstimmigen Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts.“
In der Gesetzesbegründung des VerfStarkG heißt es (insofern zutreffend), schon 1992 habe der Präsident des Bundesverfassungsgerichts die hohe Auslastung des Gerichts beklagt: „Wenn man uns nicht hilft, saufen wir ab.“ Man wolle nun endlich helfen: mit der Schaffung neuer Senate. Die Neuregelung des Richterwahlverfahrens diene der Vereinfachung der Mehrheitsfindung, die sich in den letzten Jahren, aufgrund der Vielzahl der im Bundestag vertretenen Parteien, als schwierig herausgestellt habe. Die Erhöhung des Quorums für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen und Rechtsverordnungen der Bundesregierung solle der besseren demokratischen Legitimation des Gesetzgebers und der Bundesregierung Rechnung tragen. Letztlich solle so eine stärkere Rückkoppelung des Bundesverfassungsgerichts an das Volk erreicht und mehr Akzeptanz geschaffen werden.
Drei kleinere Parteien zeigten sich zunächst ablehnend gegenüber beiden Gesetzen, sahen aber nach persönlichen Zusicherungen des Kanzlers, nur von den neuen Kompetenzen Gebrauch zu machen, soweit dies zur Durchführung der lebensnotwendigen Maßnahmen erforderlich sei, hinreichend versichert.
Der Bundestag beschloss beide Gesetze mit einer breiten Mehrheit von 455 seiner 600 Mitglieder. Nach Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler werden diese vom Bundespräsidenten ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet. Wenig später wird ein kurzes Video aus einer Sitzung der Bundesregierung geleakt, in dem der Bundeskanzler unter Beifall der anwesenden Minister verkündet, nun endlich ungestört arbeiten zu können.
Die Regierung des Bundeslandes X begrüßt das plötzliche Interesse der Bundesregierung am Klimaschutz, versteht das Ausmaß der gegenwärtigen Herausforderungen, aber ist sich gleichzeitig sehr unsicher, ob der Weg, den die Bundesregierung und der Bundestag hier einschlagen, verfassungskonform ist. Sie reicht daher einen Antrag auf Normenkontrolle gegen Art. 1-3 KlimaNotG und das VerfStarkG beim Bundesverfassungsgericht ein. Das Bundesland X hatte als einziges im Bundesrat gegen das KlimaNotG gestimmt. Enthaltungen gab es keine.
Wird der Antrag der Landesregierung Erfolg haben?
Bearbeitervermerk: Es sind alle aufgeworfenen Rechtsfragen, ggf. hilfsgutachterlich, zu behandeln. Im Bundesrat gibt es 69 Stimmen.
© Markus Heintzen und Heike Krieger (Freie Universität Berlin) Bearbeitung für Hauptstadtfälle: Dr. Björnstjern Baade Stand der Bearbeitung: April 2020 |
Zur zuletzt besuchten Textpassage | Zum Seitenanfang
© Heike Krieger und Markus Heintzen (Freie Universität Berlin)