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Monsieur Pilule geht nach Kreuzberg

 

Nach der Wende 1990 wird Berlin die Stadt, in die es alle zieht: Modedesigner ebenso wie Studenten, Partypeople genauso wie Juristen mit nicht ganz so vollbefriedigenden Examina, die im öffentlichen Dienst des Westens keine so rechten Aufstiegschancen für sich sehen. Es ist die Zeit des wilden Ostens, jeder will hier auf die eine oder andere Art sein Glück finden. Überraschenderweise ist die prozentual am stärksten wachsende Gruppe die der Apotheker. Diese – dann doch weniger überraschend – gründen v.a. Apotheken. Das führt dazu, dass das Land Berlin ein sowohl formell wie materiell verfassungskonformes Gesetz erlässt, das die Neuerrichtung neuer Apotheken reglementiert:

Nach § 1 ApothG Bln ist Ziel des Gesetzes die Sicherung einer sicheren und qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung.

Nach § 3 ApothG Bln ist die Herstellung, Lagerung, Prüfung und Abgabe von Arzneimitteln sowie die Beratung bezüglich dieser Arzneimittel Aufgabe des Apothekers.

Nach § 9 ApothG Bln ist die Neuerrichtung einer Apotheke ge­nehmigungs­pflichtig. Die Genehmigung ist danach dann zu erteilen, wenn die die Voraussetzungen der §§ 10 und 11 ApothG Bln erfüllt sind und ein Antrag bei dem jeweils örtlichen zuständigen Bezirksamt gestellt wurde. Die Kosten betragen einmalig 500 €.

§ 10 Abs. 1 ApothG Bln enthält die Regelung, dass in jedem Apotheken­bezirk grundsätzlich nur eine einzige Apotheke pro Einheit von 2 800 Einwohnern errichtet werden darf.

Nach § 10 Abs. 2 ApothG Bln darf eine zusätzliche Apotheke nur errichtet werden, wenn diese Schwelle um mehr als 2 000 Einwohner überschritten wird.

Nach § 10 Abs. 3 ApothG Bln muss jede Apotheke eine Mindestentfernung von 100 Meter gegenüber bereits bestehenden Apotheken beachten.

Nach § 11 Abs. 1 ApothG Bln muss der Bewerber ein Pharmazie-Studium erfolgreich absolviert haben.

Nach § 11 Abs. 2 ApothG Bln muss der Bewerber mindestens 5 Jahre als angestellter Apotheker gearbeitet haben. Erfahrungen in ausländischen Apotheken werden dabei allerdings nur halb angerechnet, so dass etwa eine Person, die nie in Deutschland gearbeitet hat, 10 Jahre Berufserfahrung vorweisen muss.

Schließlich verlangt § 11 Abs. 3 ApothG Bln, dass der Bewerber in Berlin seinen Wohnsitz hat.

Nach dem Studium der Pharmazie in Tübingen und Toulouse sowie sechs Praxisjahren in Apotheken in Aix-en-Provence (Frankreich) und Imperia (Italien) will der inzwischen 35jährige Franzose Jean Pilule, der auch die Staatsangehörigkeit der Elfenbeinküste besitzt, endlich einen Jugendtraum aus seinen beschaulichen Tübinger Zeiten wahrmachen und sich in Berlin niederlassen. Er glaubt, dass die Stadt einerseits wie ein Jungbrunnen wirkt – denn in Berlin soll 35 ja kein Alter sein – und außerdem sieht er eine große berufliche Zukunft in einer Stadt, die aufgrund des demographischen Wandels immer mehr ältere – und damit häufiger Apotheken benötigende – Menschen beheimatet. Allerdings gibt es in Berlin kaum noch Möglichkeiten, Apotheken zu eröffnen. Da die Anforderungen des § 10 ApothG Bln nicht erfüllt sind, ist es in den Bezirken wie Friedrichshain-Kreuzberg sogar ganz unmöglich geworden, obwohl gerade hier eine zahlungskräftiges und älteres Klientel lebt, nämlich die jungen und schon länger gut verdienenden Wilden der 1960er und 1970er Jahre. Nachdem auch noch die deutsche Bundesregierung plant, das Betäubungsmittelgesetz zu ändern und Medizin auf Marihuana-Basis zuzulassen sieht er eine goldene Zukunft vor sich. Sein Entschluss steht fest: auf nach Kreuzberg!

Er beantragt beim Bezirksamt Kreuzberg-Friedrichshain eine Genehmigung nach § 9 ApothG Bln. Diese wird von der zuständigen Bezirksbürgermeisterin Gisela Grün zurückgewiesen, da die Voraussetzungen des § 10 ApothG Bln in Kreuzberg nicht erfüllt seien. Außerdem wird er darauf hingewiesen, dass er auch die Anforderungen des § 11 Abs. 2 und 3 ApothG Bln nicht erfülle. Es sei grundsätzlich auch besonders wichtig, dass jemand in Deutschland Berufserfahrung gesammelt habe und Berlin kenne, da Apotheker nationale und regionale Gesundheitsprogramme kennen müssten und wissen müssten, wie Apotheken in dieser Region betrieben werden würden.

Nach ordnungsgemäßem, aber erfolglosem Widerspruchsverfahren erhebt Jean Pilule am Montag, den 20. Juni 2011 Klage gegen das Land Berlin vor dem VG Berlin auf Erteilung der Genehmigung. Der Widerspruchsbescheid, der eine ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung enthält, wurde am Montag, den 16. Mai 2011 zur Post aufgegeben und ihm am Dienstag, den 17. Mai 2011, mittels Einschreiben durch Übergabe zugestellt. Er ist der Ansicht, dass schon die Voraussetzung einer Genehmigung europarechtswidrig sei. Sollte dies nicht der Fall sein, so seien aber zumindest die §§ 10 und 11 ApothG Bln mit europäischen Recht nicht vereinbar, da sie teils diskriminierend, teils beschränkend wirkten.

Das Land hingegen ist der Ansicht, dass nationale Gerichte Europarecht gar nicht anwenden dürften. Außerdem läge ein Europarechtsverstoß gar nicht vor, wie sich u.a. aus der Keck-Rechtsprechung des EuGH ergebe, die zwar für die Warenverkehrsfreiheit entwickelt wurde, aber auch auf die Niederlassungsfreiheit Anwendung finden müsse.  Schließlich können nur durch die umstrittenen Regelungen des § 10 ApothG Bln sichergestellt werden, dass sich auch in unattraktiveren, etwa den finanzschwachen Gegenden Berlins Apotheker ansiedeln. Gerade hier müsse befürchtet werden, dass es zu einer Unterversorgung der Bevölkerung komme, weil sich Apotheker lieber in Gegenden niederließen, in den ein zahlungsstarkes Klientel lebe. Dieses könne sich nämlich Medikamente leisten, die nicht von den Krankenkassen bezahlt werden und oftmals wegen ihres hohen Preises dem Apotheker auch eine hohe Gewinnspanne lassen. Wenn das Gericht dieser Argumentation nicht folge, müsse es zumindest das Verfahren aussetzen und dem EuGH vorlegen.

Hat die Klage Aussicht auf Erfolg?

 

Bearbeitervermerk:

Verstöße gegen Verfassungsrecht und EG-Sekundärrecht (insbesondere RL 2004/38/EG, VO 883/2004 und RL 2005/36/EG) sind nicht zu prüfen. In realiter gibt es lediglich ein Bundes-Apothekengesetz, dieses ist ebenfalls nicht zu berücksichtigen.


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