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Boygroup (Lösungsvorschlag)

 

Da Eckelberg als Bezirksbürgermeister des Bezirks Steglitz-Zehlendorf mit der von ihm beabsichtigten Anordnung in die Rechte des „Gegen Aids e.V.“ eingreifen würde, kann sein Vorgehen nur dann rechtmäßig sein, wenn sich die Anordnung auf eine wirksame Ermächtigungsgrundlage stützen lässt und die Anordnung formell sowie materiell rechtmäßig ist. Als Grundlage für die beabsichtigte Anordnung käme vorliegend ausschließlich § 17 Abs. 1 ASOG in Betracht.

 

A. Formelle Rechtmäßigkeit der beabsichtigten Anordnung

Die sachliche Zuständigkeit für auf § 17 Abs. 1 ASOG gestützte Maßnahmen liegt gemäß § 4 Abs. 2 S. 1 AZG, § 2 Abs. 1, 2 und 4 S. 1 ASOG i.V.m. Nr. 37 Abs. 2 ZustKat ASOG a.E. bei den Bezirksämtern. Da keine Unstimmigkeiten zwischen dem Bezirksbürgermeister und seinen Stadträten übermittelt sind, kann der Bezirksbürgermeister als Bezirksamt tätig werden. Die örtliche Zuständigkeit des Bezirksamts Steglitz-Zehlendorf folgt aus § 3 Abs. Nr. 1 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 VwVfG Bln[1].

Hinsichtlich des Verfahrens muss er für eine solche Anordnung - ein Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 des nach seinem § 1 Abs. 1 Nr. 2 Var. 1 anwendbaren VwVfG - die Verfahrensvorschriften der §§ 9 ff. VwVfG beachten. Die nach § 28 Abs. 1 VwVfG erforderliche Anhörung der Initiative „Gegen Aids e. V.“ als von der Anordnung Betroffene hat jedoch bereits stattgefunden.

 

Anmerkung: Die Anwendbarkeit des § 1 Abs. 1 Nr. 2 Var. 1 VwVfG ergibt sich daraus, dass die Berliner Bezirke keine Rechtspersönlichkeit besitzen, vgl. Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 2 VvB, § 2 Abs. 1 BezVG. Wenn das Bezirksamt tätig wird, handelt es also immer für das Land Berlin, vgl. Art. 74 Abs. 2 VvB.[2]

In Flächenstaaten wird die Zuständigkeit des Bürgermeisters als Ortspolizeibehörde häufig als Fall einer Organleihe angesehen,[3] so dass die Ortspolizeibehörde nicht als Gemeindebehörde, sondern als Landesbehörde tätig wird.

Siehe zum Begriff der Organleihe und ihrer Abgrenzung zu anderen Verwaltungsorganisationsformen und den sich hieraus ergebenden Rechtsfolgen diesen Hinweis. In anderen Bundesländern ist die Tätigkeit der Ortspolizeibehörden teilweise als Auftragsangelegenheit bzw. als Pflichtaufgabe zur Erfüllung nach Weisung ausgestaltet.[4]

 

B. Materielle Rechtmäßigkeit der Anordnung

Fraglich ist jedoch, ob die beabsichtigte Anordnung auch materiell rechtmäßig wäre. Dann müssten zunächst die Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 ASOG vorliegen. Die Plakate müssten insbesondere eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung darstellen. Eine solche Gefahrliegt bei Bestehen einer Sachlage vor, die in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die von der öffentlichen Sicherheit und öffentlichen Ordnung geschützten Rechtsgüter führen wird.

Der Schadenseintritt braucht nicht mit Gewissheit zu erwarten sein. Andererseits ist aber die bloße Möglichkeit des Schadenseintritts nicht ausreichend. Der erforderliche Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts ist dabei abhängig vom Rang des Rechtsgutes, in das eingegriffen werden soll, sowie vom Rang des polizeilichen Schutzgutes.[5]

 

I. Vorliegen einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit

Unter den Begriff „öffentliche Sicherheit“ fallen sowohl der Schutz individueller Rechtsgüter (nämlich Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre und Vermögen des einzelnen) als auch der des Staates und seiner Einrichtungen sowie der gesamten Rechtsordnung.[6] Hier ist eine Verletzung der Rechtsordnung nicht ersichtlich: Die Plakate verstoßen nach dem Sachverhalt weder gegen ausdrückliche Verbote, Straf- oder Bußgeldvorschriften noch gegen Jugendschutzbestimmungen.

 

Anmerkung: Näher eingegangen werden könnte allenfalls auf einen Verstoß gegen § 119 Abs. 2 OWiG, der u. a. verbietet, öffentlich und in einer Weise, die geeignet ist, andere zu belästigen, Mittel und Gegenstände, die dem sexuellen Gebrauch dienen, anzubieten, anzukündigen oder anzupreisen. Hier dürfte jedoch ausgeschlossen sein, dass die öffentliche Darstellung von Kondomen zu Zwecken der Gesundheitsvorsorge - auch wenn sie "peppig" erfolgt - objektiv geeignet ist, andere zu belästigen.

 

Jedoch wird durch die Plakate nach Auffassung des Bezirksbürgermeisters das Stadtbild und damit das „Image“ des Ortsteils Zehlendorf beeinträchtigt, so dass fraglich ist, ob durch die Plakate nicht eine „Einrichtung des Staates“ beeinträchtigt wird. Dieses Schutzgut der öffentlichen Sicherheit soll jedoch nur die Funktionsfähigkeit des Staates gewährleisten: Der Staat soll an der Ausübung seiner (ihm rechtmäßig zustehenden) Befugnisse nicht durch Dritte gehindert werden. Das „Image“ eines Ortsteils oder einer Stadt ist jedoch keine „Einrichtung des Staates“, da es weder für die Funktionsfähigkeit des Staates noch für die Funktionsfähigkeit des betroffenen Ortsteils unerlässlich ist, und damit kein Schutzgut der öffentlichen Sicherheit darstellt. Andernfalls könnte die polizeiliche Generalklausel letztlich zu einer Ermächtigung zu einer allgemeinen Wohlfahrtspolizei umfunktioniert werden, die nicht zu den Aufgaben der Gefahrenabwehrbehörden gehört, so dass sie auch nicht in weiter Auslegung der polizeirechtlichen Generalklauseln zu den Aufgaben der Gefahrenabwehr gemacht werden darf.

 

Anmerkung: Grundlegend insoweit die Kreuzberg-Urteile des PrOVG vom 14. Juni 1882.[7]

 

Somit begründen die Plakate jedenfalls keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit.

 

II. Vorliegen einer Gefahr für die öffentliche Ordnung

Jedoch könnten die Plakate i. S. des § 17 Abs. 1 ASOG die öffentliche Ordnung gefährden. Unter „öffentliche Ordnung“ wird verstanden die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Zusammenlebens betrachtet wird.[8]

 

1. Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigung zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Ordnung

Ob diese Begriffsbestimmung verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht, ist jedoch zweifelhaft. Hiergegen werden vor allem zwei Argumente vorgebracht. Erstens sei die Verwendung des Begriffs der öffentlichen Ordnung nicht mit dem demokratischen Prinzip vereinbar, weil die Einführung von verbindlichen Gemeinschaftswerten Aufgabe der Gesetzgebung und nicht Sache der Polizei ist, und zweitens fehle dem Begriff die notwendige Bestimmtheit.[9]

Von der Rechtsprechung ist diese Kritik jedoch nicht aufgegriffen worden, und sie kann im Ergebnis auch nicht überzeugen. Das BVerfG geht etwa davon aus, dass der Begriff der öffentlichen Ordnung durch das Polizeirecht einen hinreichend klaren Inhalt erlangt habe.[10] Auch eine Beeinträchtigung des demokratischen Prinzips liegt nicht vor. Der Gesetzgeber hat in vielen von ihm getroffenen Regelungen an gesellschaftliche Anschauungen angeknüpft, ohne dass dagegen rechtliche Bedenken angemeldet wurden (z.B. § 138, § 242 BGB); auch das Grundgesetz (Art. 13 Abs. 7, Art. 35 Abs. 2 Satz 1 GG) verwendet den Begriff, so dass er sogar eine verfassungsrechtliche Anerkennung gefunden hat. Dass es sich bei ihm um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, dessen Inhalt erst festgestellt werden muss und der Veränderungen unterliegt, macht ihn nicht verfassungswidrig, sondern gibt lediglich Anlass zu einer vorsichtigen Praxis bei der Feststellung seines Inhalts.[11]

Somit ist von der Verfassungsmäßigkeit des § 17 Abs. 1 ASOG auch insoweit auszugehen, als er den Schutz der öffentliche Ordnung umfasst.

 

2. Verstoßen die Plakate gegen die öffentliche Ordnung?

Fraglich ist somit, ob die Plakate eine Gefahr für die „öffentliche Ordnung“ darstellen, was nach dem oben Gesagten zu bejahen wäre, wenn sie gegen ungeschriebene Regeln für das Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit verstießen, deren Beachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Zusammenlebens betrachtet wird. Anders als die Initiative „Gegen AIDS e.V.“ meint, kommt es hierbei nicht auf die herrschenden Anschauungen im gesamten Bundesgebiet, sondern auf die örtlichen Anschauungen - und damit auch solche in einem Stadtteil - an.

Hier könnte für die Annahme eines Verstoßes gegen die herrschenden örtlichen Anschauungen sprechen, dass sich mehrere Einwohner durch die Darstellung auf dem Plakat belästigt fühlen und die Plakate für ein „öffentliches Ärgernis“ halten. Die Plakate werden von diesen Einwohnern als eine Aufforderung an Jugendliche zu problemlosen Geschlechtsverkehr verstanden. Auch mehrere Mütter zehn- bis zwölfjähriger Mädchen hatten Eckelberg vor Erlass der Anordnung berichtet, dass ihre Töchter für „Boygroups“ schwärmten und beim Anblick der Plakate sicherlich animiert würden, als „Groupies“ mit derartigen Musikern intime Beziehungen einzugehen.

Allerdings reicht nach der oben genannten Definition eine Belästigung einzelner Personen für die Annahme einer Störung der öffentlichen Ordnung nicht aus. Es müssen vielmehr Regeln gebrochen sein, die nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten Zusammenlebens angesehen werden.

Allein die Darstellung von Kondomen in der Öffentlichkeit reicht nach den heutigen Anschauungen der ganz überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung für die Annahme einer Beeinträchtigung des gesellschaftlichen Zusammenlebens sicherlich nicht aus.

Eine andere Beurteilung könnte sich allenfalls daraus ergeben, dass die Kondome mit dem Begriff „Boygroup“ in Verbindung gebracht werden. Dieser Begriff ist eine Erfindung der achtziger Jahre und zielt auf eine ganz bestimmte Käuferschicht von Popmusik-Fans: meist sehr junge Mädchen, die ihr Taschengeld in CDs, Kalender und sonstige Fanartikel ihrer Stars investieren. Somit könnte man tatsächlich zu dem Schluss kommen, dass die Plakate junge Mädchen zum Geschlechtsverkehr animieren wollen.

Jedoch muss für die Beurteilung das Plakat als Ganzes betrachtet werden. Schon das am unteren Rand erkennbare Logo der Initiative zur AIDS-Aufklärung macht deutlich, dass das Plakat nicht etwa Jugendliche zum möglichst frühen Geschlechtsverkehr bewegen möchte. Das Plakat knüpft vielmehr an die Tatsache an, dass immer mehr Jugendliche immer früher Geschlechtsverkehr haben, und soll dazu dienen, gerade auch sie auf die Gefahren einer AIDS-Infektion aufmerksam zu machen und sie zum aktiven Schutz vor Ansteckung aufzufordern. Dieses Ziel ist allgemein gesellschaftlich akzeptiert und wird auch von staatlichen Stellen, wie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, verfolgt. Die Intention des Plakates kann daher keinen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung begründen. Ist diese aber nicht zu beanstanden, so muss es auch möglich sein, die „Botschaft“ mit etwas provokanten Mitteln zu vermitteln, wie dies auch sonst in der Werbung üblich ist.

 

3. Ergebnis zu II.

Die Plakate verstoßen damit nicht gegen die öffentliche Ordnung.

 

III. Ergebnis zu B.

Auf Grundlage des § 17 Abs. 1 ASOG kann folglich die von Eckelberg beabsichtigte Anordnung nicht erlassen werden. Sie wäre daher materiell rechtswidrig

 

C. Ergebnis

Die beabsichtigte Anordnung wäre somit rechtswidrig und darf daher vom Bezirksamt als Ordnungsbehörde nicht erlassen werden.

 

 

© Klaus Grupp (Universität des Saarlandes) und Ulrich Stelkens (Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer)

Bearbeitung für Hauptstadtfälle: Georg Hellmich

Stand der Bearbeitung: August 2015

 


[1] Auf den Verweis in das Berliner Landesrecht wird im Folgenden verzichtet.

[2] Dazu: Musil/Kirchner, Rn. 31-64, 303-334.

[3] Siehe hierzu Guckelberger, in: Gröpl/Guckelberger/Wohlfarth, § 4 Rn. 11; Wohlfarth, in: Gröpl/Guckelberger/Wohlfarth, § 3 Rn. 37; a.A. Gröpl, LKRZ 2007, 329, 332 ff., der die Aufgaben der Ortspolizeibehörden als kommunale Auftragsangelegenheit wertet; tatsächlich ist die Rechtspraxis im Saarland vielfach inkonsequent.

[4] Vgl. Maurer, § 21 Rn. 55.

[5] zum Gefahrenbegriff: BVerwG, 6 C 12/11 v. 28.3.2012, Abs. 27 = BVerwGE 143, 74, Abs. 27; Götz, § 6 Rn. 3 ff.

[6] BVerfGE 69, 315, 352; BVerwG, 6 C 12/11 v. 28.3.2012, Abs. 23 = BVerwGE 143, 74, Abs. 23; Götz, § 4 Rn. 3.

[7] PrOVGE 9, 353 ff = neu abgedruckt in DVBl. 1985, 219 ff.; hierzu: Götz, § 2 Rn. 8.

[8] Götz, § 5 Rn. 1.

[9] Vgl. Denninger, in: Lisken/Denninger, D Rn. 35 ff.

[10] BVerfG 1 BvR 233, 341/81 v. 14.5.1985, Abs. 77 ff. = BVerfGE 69, 315, 352 f.

[11] Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 65

 


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© Klaus Grupp (Universität des Saarlandes) und Ulrich Stelkens (Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer)

Bearbeitung für Hauptstadtfälle: Georg Hellmich
Stand der Bearbeitung: August 2015