Straßenschlussstrich (Kurzlösung)
Hinweis zur Berliner Rechtslage: Tatsächlich existiert bis heute keine einzige Sperrbezirksverordnung nach Art. 297 EGStGB in Berlin. Nach dem derzeitigen Stand der politischen Diskussion wird es auch in diesem Fall keine solche geben. Auch das „Schöneberger Modell“ war nie Rechtswirklichkeit. |
Die gegen das Bezirksamt und die Polizeipräsidentin in Berlin gerichtete Klage von Frau Fey hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit
I. Verwaltungsrechtsweg (§ 40 VwGO)
- keine aufdrängende Sonderzuweisung
- (+) § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO, weil Maßnahmen, die laut Vertrag unterlassen werden sollen, auf ASOG, also öffentlich-rechtlichen Normen, basieren; Vertrag ist ebenfalls dem öffentlichen Recht zuzuordnen, § 54 S. 1 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 VwVfG Bln, weil dadurch öffentlich-rechtliche Rechtsbeziehungen zwischen der Störerin Fey (§ 13 ASOG) und den Behörden verändert werden
- keine abdrängende Sonderzuweisung
II. Statthafte Klageart
- weitreichendes Klagebegehren, Verhinderung von Maßnahmen, die u.a. Verwaltungsaktcharakter haben
1. Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO)
- (-) soweit Maßnahmen Verwaltungsaktcharakter haben, jedenfalls noch nicht erlassen
2. (Vorbeugende) Unterlassungsklage
- (+) allgemein anerkannt, dass schon gegen den Erlass (rechtswidriger) Verwaltungsakte (vorbeugenden) Unterlassungsklage möglich; Unterfall der allgemeinen Leistungsklage, die in VwGO nicht besonders geregelt, aber erwähnt (vgl. § 43 Abs. 2, § 111, § 113 Abs. 4, § 191 Abs. 1 VwGO)
3. Allgemeine Feststellungsklage (§ 43 Abs. 1 VwGO)
- (-) Feststellungsklage bleibt hinter Begehren zurück (angestrebt wird vollstreckbares [!] Unterlassungsurteil); Subsidiarität der Feststellungsklage nach § 43 Abs. 2 S. 1 VwGO, Leistungsklage besser und effektiver
4. Ergebnis zu A. II.
- allgemeine Leistungsklage in Form der (vorbeugenden) Unterlassungsklage statthaft
III. Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO analog)
- (+) Ausschluss Popularklagen; Rechte nur aus Nr. 1 des Vertrages
IV. Passive Prozessführungsbefugnis (§ 78 VwGO analog)
- (+) § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO entsprechend (Ausdruck des Rechtsträgerprinzips); Land Berlin; § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO Angabe Behörden ausreichend
V. Beteiligten- und Prozessfähigkeit (§§ 61, 62 VwGO)
- (+) Frau Fey, § 61 Nr. 1 Alt. 1 und § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO; Land Berlin, § 61 Nr. 1 Alt. 2 und § 62 Abs. 3
VI. Rechtsschutzbedürfnis
- grds. (-) repressiver Rechtsschutz gegen VAe durch Widerspruch und Anfechtungsklage
- hier (+) aus Mitteilung Behörde Erlass von VAen unausweichlich; VAe schon für sich allein negative Folgen, die durch nachträgliche Aufhebung nicht ausgeglichen werden können
VII. Ergebnis zu A.
- Klage von Frau Fey insgesamt zulässig.
B. Begründetheit
- begründet, wenn Frau Fey aus Nr. 1 des mit Behörden geschlossenen Vertrages tatsächlich das Recht herleiten kann, während zweier Jahre von polizeilichen Maßnahmen verschont zu bleiben; Voraussetzung: wirksamer Vertrag nach §§ 54 ff. VwVfG
I. Formelle Wirksamkeitsvoraussetzungen
- § 62 VwVfG i.V.m. § 145 ff. BGB Willenseinigung zwischen Frau Fey und Berlin
- bzgl. Anordnungen nach §§ 17 ff. ASOG war Bezirksamt nach § 2 Abs. 4 S. 1 AZG, § 4 Abs. 2 S. 1 ASOG i.V.m. Nr. 37 Abs. 2 ZustKat Ord sachlich zuständig; örtliche Zuständigkeit, § 3 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG; örtliche und sachliche Zuständigkeit der Polizei direkt aus den §§ 17 ff. ASOG
- keine Unwirksamkeit nach § 58 VwVfG, weil Senat für fraglichen Teil des IfSG nicht zuständig
II. Unwirksamkeit wegen Unzulässigkeit der Handlungsform des öffentlich-rechtlichen Vertrages im Gefahrenabwehrrecht?
- wenn nach § 54 S. 1 VwVfG Rechtsvorschriften entgegenstehen, wäre Vertrag nach allgemeiner Auffassung nichtig (str., ob Rechtsfolge aus § 54 S. 1 VwVfG oder § 59 Abs. 1 VwVfG i.V.m. § 134 BGB)
- entgegenstehende Rechtsvorschriften sind nicht nur ausdrückliche Verbote, sondern können auch durch Auslegung entstehen
- nach § 54 S. 2 VwVfG öffentlich-rechtlicher Vertrag jedenfalls ausdrücklich in Subordinationsverhältnis möglich
- (+) weil Gefahrenabwehr v.a. dem allgemeinen Interesse dient, könnte vertragliche Regelung zwischen nur zwei Parteien (Störer und Behörde), die Störer Recht zur Störung gewährt, ausgeschlossen sein
- (-) polizeiliche Maßnahmen weitgehend imErmessen der Behörden; hier vertragliche Regelung offenbar geeigneter als klassisches Vorgehen
III. Unwirksamkeit nach § 59 Abs. 2 VwVfG
1. Anwendbarkeit des § 59 Abs. 2 VwVfG
- (+) Vertrag i.S.d. § 54 S. 2 VwVfG, Vertrag als Alternative zu sonst möglichen VAen
2. Nichtigkeit nach § 59 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG
- Vertrag nichtig, wenn VA mit entsprechendem Inhalt nichtig wäre
a) Nichtigkeit nach § 59 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 44 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG
- (-) weil erkennbar, dass zwei Behörden eindeutig als „Aussteller“ auftreten
b) Nichtigkeit nach § 59 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 44 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG
- (-) weil Ordnungswidrigkeiten keine Leistungspflicht von Frau Fey (Wortlaut „verlangt“)
c) Nichtigkeit nach § 59 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 44 Abs. 2 Nr. 6 VwVfG
- lange Zeit selbstverständlich, dass auch mittelbare Förderung der Prostitution in allen Bereichen des Rechts sittenwidrig ist
- Änderung wg. ProstG?; ausdrücklich nur Regelungen im Bereich des Privatrechts, des Strafrechts und des Sozialrechts und nicht im Bereich des Polizei- und Ordnungsrechts
- (-) Frage kann dahin gestellt bleiben; Prostitution sollte nicht gefördert werden; klassischen Instrumente des Ordnungsrecht wirkungslos; Vertrag hat leichte Verbesserungen erreicht
d) Nichtigkeit nach § 59 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 44 Abs. 1 VwVfG
- (-) kein besonders schwerwiegender und offensichtlicher Fehler, weil VA nicht „auf die Stirn geschrieben ist“, dass er rechtswidrig erlassen wurde
e) Ergebnis zu 2.
- Vertrag nicht bereits nach § 59 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 44 VwVfG nichtig.
3. Nichtigkeit nach § 59 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG
- (-) selbst wenn VA rechtswidrig wäre, kein kollusives Zusammenwirken von Behörden und Frau Fey
4. Nichtigkeit nach § 59 Abs. 2 Nr. 4 i.V.m. § 56 VwVfG
- hier § 56 Abs. 1 VwVfG, weil VAe nach ASOG gegen Störer im Ermessen der Behörden
a) Vereinbarung eines konkreten Zwecks der Gegenleistung (§ 56 Abs. 1 S. 1 VwVfG)
- (+) streng genommen fehlt es an hinreichend konkreter Zweckvereinbarung; Sinn und Zweck § 56 Abs. 1 S. 1 VwVfG zielt aber auf Geldleistungen und sonstige vermögenswerte Gegenleistungen, bei denen zweckwidrige Verwendung vorstellbar ist; von Frau Fey geschuldete Gegenleistung trägt Zweck in sich selbst
b) Dient Gegenleistung der Erfüllung öffentlicher Aufgaben der Polizeibehörden (§ 56 Abs. 1 S. 1 VwVfG)?
- Gegenleistung muss in Zusammenhang mit den Aufgaben steht, zu deren Erfüllung die Behörden örtlich und sachlich zuständig sind; hier (+) Gesundheitsüberprüfung dient Gesundheitsschutz der Frauen/Bevölkerung, beides Schutzgut i.S.d. § 1 Abs. 1 S. 1 ASOG
- IfSG wollte zwar bewusst „Zwangsuntersuchung“ beenden, daraus folgt aber nicht, dass Behörden nicht auf eine freiwillige Inanspruchnahme der Leistungen nach § 19 Abs. 1 IfSG hinwirken können
c) Vereinbarkeit mit § 56 Abs. 1 S. 2 VwVfG
- Gegenleistung muss „den gesamten Umständen nach angemessen sein und im sachlichen Zusammenhang mit den vertraglichen Leistungen der Behörde stehen“; sog. Koppelungsverbot
- BVerwG: entscheidend seien Inhalt und Begleitumstände des Vertrages; a) innerer Zshg. zwischen verknüpften Leistungen; b) hoheitliche Entscheidungen dürfen nicht von wirtschaftlichen Gegenleistungen abhängig gemacht werden, es sei denn, erst Gegenleistung beseitigt rechtliches Hindernis
- (-) unzulässige Koppelung, weil Schutzgut der Sperrbezirksverordnung „die Jugend und der öffentliche Anstand“; Gegenleistung bekämpft Gesundheitsgefahren
- (+) zulässige Koppelung, einheitlicher Sachbereich „Gefahren der Prostitution“
- weites Verständnis notwendig, weil sonst keine sinnvollen Anwendungsmöglichkeiten für Vertrag nach §§ 54 ff. VwVfG
d) Ergebnis zu 4.
- § 59 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 56 VwVfG steht nicht entgegen
5. Ergebnis zu III
- kein Hindernis aus § 59 Abs. 2 VwVfG
IV. Unwirksamkeit nach § 59 Abs. 1 VwVfG
1. Nichtigkeit nach § 59 Abs. 1 VwVfG i.V.m. § 134 BGB
- Verbotsgesetz i.S.d. § 59 Abs. 1 VwVfG i.V.m. § 134 BGB liegt nur vor, wenn gegen eine zwingende Rechtsnorm verstoßen wird, die den erstrebten Rechtserfolg unbedingt ausschließen soll
- (-) Grundrechte und Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes sind keine „Verbotsgesetze“ i.S.d. § 59 Abs. 1 VwVfG i.V.m. § 134 BGB, weil Abschluss eines Vertrages nach §§ 54 ff. VwVfG Gebrauch des Grundrechts darstellt
- (-) kein Verstoß gegen § 240 StGB, weil Nötigung nicht „verwerflich“ i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB: Behörden waren berechtigt, Maßnahmen gegen Störer zu erlassen; außerdem § 240 StGB kein Verbotsgesetz, denn nach § 62 S. 2 VwVfG i.V.m. § 123 Abs. 1 BGB wird nur Anfechtungsrecht für Genötigten begründet
- (-) Regelungskonzept des § 19 IfSG steht nicht entgegen (siehe B. III. 4. b)).
2. Nichtigkeit nach § 59 Abs. 1 VwVfG i.V.m. § 138 BGB
- (-) kein anderes Ergebnis als zu § 59 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG i.V.m. § 44 Abs. 2 Nr. 6 VwVfG denkbar (siehe B III 2 c)
3. Ergebnis zu IV.
- § 59 Abs. 1 VwVfG steht Vertrag nicht entgegen
V. Unwirksamkeit des Vertrages aufgrund einer Kündigung durch die Polizeibehörden
- Form des § 60 Abs. 2 VwVfG gewahrt
1. Kündigung nach § 60 Abs. 1 S. 1 VwVfG
- tatsächlichen Verhältnisse seit Abschluss des Vertrages geändert: Straßenstrich hat unvorhergesehenen Zulauf bekommen
- fraglich, ob diese tatsächlichen Verhältnisse für den Abschluss des Vertrages maßgeblich gewesen sind; Sicht beider Parteien; maßgebliches Motiv der Behörden: Straßenstrich mit polizeilichen Standardmaßnahmen nicht beizukommen; gibt auch noch Sinn, wenn der Straßenstrich „überlaufen“ ist
- (-) Umstände fallen in den Risikobereich des Landes Berlin: a) Befristung - Vertrag sollte für zwei Jahre konsequent durchgeführt werden; b) durch Verhalten seiner Behörde hat das Land Berlin die „Publikumswirksamkeit“ des Schöneberger Straßenstrichs mit verursacht
2. Sonderkündigungsrecht nach § 60 Abs. 1 S. 2 VwVfG
- (-) keine schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu erwarten; eng auszulegen, weil sonst jederzeitiges Kündigungsrecht
3. Ergebnis zu V.
- Behörden nicht zur Kündigung berechtigt
VI. Ergebnis zu B.
- Vertrag wirksam: Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg und die Polizeipräsidentin in Berlin nicht berechtigt, gegenüber Frau Fey Maßnahmen aufgrund des ASOG zu treffen, nur weil sie in dem betreffenden Gebiet der Prostitution nachgeht
C. Gesamtergebnis
- Klage von Frau Fey zulässig und begründet
Der Fall beruht auf einem Fall von Joachim Burmeister und war von ihm zur Verwendung für die Saarheimer Fälle gestattet. In seiner ursprünglichen Form war er Gegenstand einer Klausur im Ersten Juristischen Staatsexamen. Siehe zu dieser Version des Falles die Fallbearbeitung von Volker Stein, Fälle und Erläuterungen zum Allgemeinen Verwaltungsrecht/Verwaltungsprozessrecht, 2001, S. 68 ff. |
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