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Richterschelte (Kurzlösung)

A. Zulässigkeit

I. Verwaltungsrechtsweg (§ 40 VwGO)

- (+), nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO, weil streitentscheidende Norm (§ 15 VersG) öffentlich-rechtliche Norm

 

II. Statthafte Klageart

1. Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO)

- „Auflage“ i.S.d. § 15 Abs. 1 VersG ist zwar selbstständiger VA und keine Nebenbestimmung, weil Versammlungen nicht genehmigungspflichtig

- „Auflage“ hat sich aber inzwischen erledigt

=> Anfechtungsklage unstatthaft

 

2. Fortsetzungsfeststellungsklage

- keine unmittelbare Anwendung des § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO, denn nach Systematik muss sich VA nach Prozessbeginn erledigt haben- analoge Anwendung?

- planwidrige Regelungslücke (+), weil Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 Alt. 2 VwGO nur für nichtige VAe statthaft, Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG umfassende gerichtliche Prüfungsmöglichkeit garantiert und zufälliger Zeitpunkt der Erledigung unterschiedliche Zulässigkeitsvoraussetzungen diktieren würde

- vergleichbare Interessenlagen (+), weil sich Fälle nur im Erledigungszeitpunkt unterscheiden

=> Fortsetzungsfeststellungsklage (FFK) nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO analog statthaft

 

III. Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO analog)

- Voraussetzung gilt auch für FFK in analoger Anwendung, weil Fortsetzung einer Anfechtungsklage; deren Voraussetzungen sollen nicht umgangen werden

- (+), Verletzung von Art. 8 Abs. 1 bzw. Art. 2 Abs. 1 GG möglich

IV. Vorverfahren (§ 68 VwGO)

- str., ob notwendig bei vorprozessualer Erledigung

- nicht notwendig, weil wesentliche Funktionen des Vorverfahrens (Aufhebung nach § 72 VwGO; aufschiebende Wirkung nach § 80 VwGO) nicht mehr erreichbar

 

V. Frist (§ 74 VwGO)

- str., ob notwendig bei vorprozessualer Erledigung; hier nicht zu entscheiden, da in jedem Fall Monatsfrist (§ 74 VwGO direkt oder analog) gewahrt.

 

VI. Feststellungsinteresse (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO analog)

- (+), Wiederholungsgefahr (konkrete Anhaltspunkte, dass künftig zwischen denselben Beteiligten ein vergleichbarer Verwaltungsakt erlassen wird und die für die Beurteilung maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Umstände im Wesentlichen unverändert sind, da Dr. Kunstinnig die ursprünglich geplante Demonstration bald durchführen will)

 

VII. Passive Prozessführungsbefugnis (§ 78 VwGO analog)

- Land Berlin ist nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 analog richtiger Beklagter

 

VIII. Beteiligten- und Prozessfähigkeit (§§ 61, 62 VwGO)

- Dr. Kunstinnig, § 61 Nr. 1 Alt. 1 VwGO und § 62 Nr. 1 VwGO

- Land Berlin, § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO und § 62 Abs. 3 VwGO.

 

IX. Ergebnis zu A.

- Klage zulässig

 

B. Begründetheit

- Klage begründet, soweit Verfügung rechtswidrig und Dr. Kunstinnig in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO analog)

- Rechtsverletzung, wenn VA rechtswidrig, weil als Adressat jedenfalls in Art. 2 Abs. 1 GG betroffen

- Ermächtigungsgrundlage § 15 Abs. 1 VersG

 

I. Formelle Rechtmäßigkeit

- Polizeipräsidentin von Berlin, § 15 Abs. 1 VersG, § 4 Abs. 2 S. 1 AZG, § 2 Abs. 4 S. 1 ASOG i.V.m. Nr. 23 Abs. 2 ZustKat Ord sachlich zuständig

- Anhörung nach § 28 Abs. 1 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 VwVfG Bln mit Telefongespräch, (formelles) Begründungserfordernis nach § 39 Abs. 1 VwVfG erfüllt

 

II. Materielle Rechtmäßigkeit

1. Tatbestandsvoraussetzungen des § 15 Abs. 1 VersG

a) Versammlung oder Aufzug

- Begriff der „Versammlung“ des VersG im Wesentlichen deckungsgleich mit dem Versammlungsbegriff des Art. 8 GG

- Protestmarsch ist Aufzug i. S. d. § 15 VersG, Kundgebung öffentliche Versammlung

 

b) Unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung

- Gefahr für öffentliche Sicherheit, weil individuelles Rechtsgut betroffen: räumlich-gegenständlicher Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG; dazu gehört ein Innenbereich privater Lebensgestaltung, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat

- unmittelbare Gefahr, weil Beeinträchtigung mit Kundgabe vor dem Haus sicher eingetreten wäre

 

c) Störereigenschaft

- Dr. Kunstinnig als Veranstalter und Redner richtiger Adressat

 

d) Ergebnis zu 1.

Tatbestandsvoraussetzungen des § 15 Abs. 1 VersG lagen vor

 

2. Ordnungsgemäße Ermessensausübung

- kein Verstoß gegen die Pflicht zur Ermessensausübung (§ 40 Var. 1 VwVfG)

- problematisch, ob gegen die gesetzlichen Grenzen des Ermessens verstoßen wurde (§ 40 Var. 2 VwVfG)

- Grenzen könnten durch Verstoß gegen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz überschritten sein

- hier problematisch: Verhältnismäßigkeit i.e.S.

- Abwägung mit Art. 8 Abs. 1 GG

- überragende Bedeutung der Versammlungsfreiheit verbietet grds. staatlichen Einfluss auf Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung; bloße Belästigungen, die mit jeder Versammlung auf Grund ihrer Eigenschaft als öffentliche Veranstaltung einhergehen, sind hinzunehmen, und dürfen Art. 8 Abs. 1 GG nicht einschränken

- hier aber gleichwertiges Rechtsgut des allg. Persönlichkeitsrechts

- durch Streckenführung in die Nähe des Hauses kommt Art. 8 Abs. 1 GG ausreichend zur Geltung

=> nicht unverhältnismäßig und somit ermessensfehlerfrei

 

III. Ergebnis zu B.

- „Auflage“ rechtmäßig, keine Rechtsverletzung denkbar

 

C. Gesamtergebnis

- Klage zulässig, aber unbegründet

 

 

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© Klaus Grupp (Universität des Saarlandes) und Ulrich Stelkens (Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer)

Bearbeitung für Hauptstadtfälle: Georg Hellmich, Jannik Bach
Stand der Bearbeitung: Juni 2018