Das Kreuz der NeymAir (Sachverhalt)
Frederike Mikaelsen (F) ist überzeugte Christin und trägt als Zeichen ihres Glaubens ein schlichtes Kreuz aus Silber um ihren Hals. Es hat etwa die Größe eines 2 Euro Stücks. Ihr Arbeitgeber NeymAIR (NAir), eine private Airline aus dem südosteuropäischen Staat Neymo (N), führte Anfang 2013 eine Regelung ein, nach der religiöse Symbole von der Uniform bedeckt sein müssen, um das säkulare Image und die Corporate Identity der Airline nicht zu gefährden sowie um religiöse Konflikte zu vermeiden. Falls eine Bedeckung des Symbols durch andere Kleidung nicht möglich sei, müsse das Management entscheiden, ob das religiöse Symbol trotzdem getragen werden dürfe. Anderer Schmuck, Bekleidung oder Symbole dürfen nicht zusammen mit der Uniform getragen werden. Frederikes Kreuz wird als „verboten“ eingestuft. Als sie es trotzdem trägt, wird sie nach Hause geschickt und entlassen. Trotz der späteren Änderungen der Richtlinien, die das Tragen von religiösen Symbolen wieder erlaubt, wird sie nicht erneut eingestellt.
Frederike klagt gegen die NeymAIR auf Wiedereinstellung, da sie in ihrer Religionsfreiheit verletzt worden sei. U.a. bringt sie vor, dass Image und Corporate Identity von NeymAIR kein legitimes Ziel für die Einschränkung ihrer Rechte darstellen könnten. Sie scheitert aber endgültig vor dem Obersten Gerichtshof Neymos, der keinerlei Rechtsverletzung auf Seiten der NeymAIR sieht.
Diese Vorgänge führen zu einer Bewegung in dem Staat Neymo gegen die Politik von NeymAIR. Für den 10. Januar 2014 wird eine große Demonstration auf dem zentralen Maicon-Platz in der Hauptstadt angemeldet. Nachdem der neymonische „Schwarze Block“ seine Teilnahme mit ca. zehn Personen via Twitter angekündigt hat, fürchtet der Staatspräsident, dass die Demonstration gewalttätig werden und sich außerdem aus ihr soziale Unruhen entwickeln könnten. Unter diesen Umständen sieht das Versammlungsgesetz Neymos die Möglichkeit eines Verbots der Demonstration ebenso vor wie das Verbot der Teilnahme von gefährlichen Personen an einer Demonstration. Der Präsident erteilt den Polizisten aber lediglich den Befehl, im Falle einer Gegendemonstration diese gewähren zu lassen und die Demonstranten nicht zu schützen.
Zu der großen Demonstration fährt auch der Julio Brückmann (J). Julio ist ein spanischer Priester (und ein entfernter Verwandter des Berliner Pfarrers Bernhard Brückmann), der eine Demonstrationsfahrt von der spanischen Stadt Gijon nach Neymo organisiert. Er und seinen 40 Mitstreitern wird in Neymo direkt nach dem Überschreiten der Grenze auf dem Weg zu der Demonstration verboten, an ihr teilzunehmen. Begründet wird das Verbot mit den befürchteten Gewalttätigkeiten und den sozialen Unruhen sowie damit, dass politische Tätigkeiten von Ausländern in Neymo gesetzlich beschränkt seien.
Dennoch schaffen es Julio und seine Mitfahrer, zu der Demonstration in der Hauptstadt zu gelangen. Da der Befehl des Präsidenten an die Polizei auch der NeymAIR bekannt wird und sie durch die Demonstration „schlechte Presse“ fürchtet, schickt die NeymAIR ihre Sicherheitskräfte zu der Demonstration, um diese im Keim zu ersticken. Die Sicherheitskräfte prügeln schon vor Beginn auf die sich langsam versammelnde Menge ein, während die Polizei tatenlos zuschaut. Aus Furcht gehen die Demonstranten daraufhin nach Hause, so dass die Demonstration selbst gar nicht stattfinden kann.
Julio leitet im Anschluss eine gerichtliche Überprüfung der Vorgänge ein und klagt vor dem zuständigen Verwaltungsgericht gegen die Regierung. Er bringt vor, dass er und seine 40 Mitstreiter sowohl durch das Verbot der Weiterfahrt als auch durch die Gewalttätigkeiten der NeymAIR in ihrem Demonstrationsrecht verletzt worden seien. Die zulässige Klage wird als unbegründet abgewiesen. Berufung und Revision sind nicht möglich.
Weder Julio noch Frederike wollen ihre Niederlagen hinnehmen und legen form- und fristgerecht am 22. Juli 2014 schriftliche Beschwerde gegen das jeweilige Gerichtsurteil vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Der Staat Neymo beruft sich auf eine Interpretationserklärung, die er im Zuge des Ratifikationsprozesses im Jahre 2008 abgegeben hat. Sie lautet: „Die EMRK wird im Rahmen der Verfassung Neymos ausgelegt und findet nur in den Grenzen der Verfassung Anwendung.“ Die Verfassung sieht eine Klausel vor, nach der aus Grund- und Menschenrechten in Neymo ausdrücklich keine Schutzpflichten entstehen, sondern sie vielmehr ausschließlich als Abwehrrechte verstanden werden. Dies gelte aufgrund der Erklärung auch für die EMRK-Rechte. Außerdem sei die Justiz in Neymo unabhängig, weshalb eine Zurechnung zu Neymo ausscheide. Schließlich habe sich zumindest die Beschwer des Julio erledigt, da von dem Demonstrationsverbot aufgrund des Zeitablaufs keine Geltung mehr ausgehe. Eine Opfereigenschaft läge daher nicht mehr vor. Julio und Frederike erwidern, dass die Interpretationserklärungu.a.nach Art. 19 WVK unwirksam seiund – was zutrifft – drei Staaten eine Erklärung abgegeben hätten, dass sie diese Erklärungen als zu allgemein sowie dem Sinn und Zweck der EMRK widersprechend ansähen. Außerdem sei die Justiz in Neymo gar nicht unabhängig, weshalb eine Zurechnung zu Neymo sehr wohl in Betracht komme.
Wie wird der EGMR über die Beschwerden von Julio und Frederike entscheiden?
Hinweis: Neymo ist Vertragsstaat des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 sowie Mitglied der Europäischen Union. Die Zusatzprotokolle zur EMRK hat es nicht ratifiziert. Art. 14 EMRK ist nicht zu prüfen.
Es ist auf alle aufgeworfenen Rechtsprobleme – ggf. hilfsgutachterlich – einzugehen.
Auszüge aus EUV und AEUV
Art. 9 EUV
Die Union achtet in ihrem gesamten Handeln den Grundsatz der Gleichheit ihrer Bürgerinnen und Bürger, denen ein gleiches Maß an Aufmerksamkeit seitens der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union zuteil wird. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.
Artikel 20 AEUV
(1) Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.
(2) Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem
a) das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten;
b) in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen, wobei für sie dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats;
c) im Hoheitsgebiet eines Drittlands, in dem der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, nicht vertreten ist, Recht auf Schutz durch die diplomatischen und konsularischen Behörden eines jeden Mitgliedstaats unter denselben Bedingungen wie Staatsangehörige dieses Staates;
d) das Recht, Petitionen an das Europäische Parlament zu richten und sich an den Europäischen Bürgerbeauftragten zu wenden, sowie das Recht, sich in einer der Sprachen der Verträge an die Organe und die beratenden Einrichtungen der Union zu wenden und eine Antwort in derselben Sprache zu erhalten.
Diese Rechte werden unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen ausgeübt, die in den Verträgen und durch die in Anwendung der Verträge erlassenen Maßnahmen festgelegt sind.
Artikel 21
(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
(2) Erscheint zur Erreichung dieses Ziels ein Tätigwerden der Union erforderlich und sehen die Verträge hierfür keine Befugnisse vor, so können das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Vorschriften erlassen, mit denen die Ausübung der Rechte nach Absatz 1 erleichtert wird.
(3) Zu den gleichen wie den in Absatz 1 genannten Zwecken kann der Rat, sofern die Verträge hierfür keine Befugnisse vorsehen, gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen erlassen, die die soziale Sicherheit oder den sozialen Schutz betreffen. Der Rat beschließt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments.
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© Heike Krieger und Markus Heintzen (Freie Universität Berlin)