Gliederung: Die Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Fallbearbeitung
Die Verhältnismäßigkeitsprüfung und insbesondere die Prüfung der Angemessenheit (auch Verhältnismäßigkeit i.e.S) ist bei vielen Studierenden unbeliebt oder wird nicht ernst genug genommen. Oft wird die Prüfung als subjektiv geprägt, unpräzise und willkürlich[1] abgetan und entsprechend unstrukturiert geprüft. Gerade weil die Prüfung der Verhältnismäßigkeit meist am Schluss einer Klausur steht, wird hier häufig zu knapp und zu unsauber geprüft und so werden wertvolle Punkte verschenkt.[2] Dabei würde die sorgfältige Prüfung Platz für eigenständige Argumentation bieten, welche häufig „gute“ oder „vollbefriedigende“ von durchschnittlichen Arbeiten unterscheidet. Das folgende Schema soll aufzeigen, wie die Verhältnismäßigkeitsprüfung strukturiert werden kann, um schließlich eine klare, wenn auch nicht vollständig wertneutrale[3], Entscheidung zu ermöglichen.
Verhältnismäßigkeit
Der Eingriff (Mittel) müsste im Hinblick auf den mit ihm verfolgten Zweck verhältnismäßig sein.
I. Legitimer Zweck und legitimes Mittel
1. Legitimier Zweck
Legitime Zwecke sind grundsätzlich alle öffentlichen Interessen (gibt es mehrere Zwecke sollten alle genannt werden).
Ausnahmen:
- Vorbehaltlose Grundrechte (legitime Zwecke beschränkt auf Schutz von Verfassungsgütern)[4]
- Qualifizierte Gesetzesvorbehalte (z.B. Art. 11 Abs. 2, Art. 13 Abs. 2, Art. 13 Abs. 7 GG)[5]
- Zweckbeschränkungen (z.B. Drei-Stufen-Theorie im Rahmen des Art. 12 GG)
Hinweis: Gibt es mehrere Zwecke muss die folgende Prüfung jeweils für alle Zwecke durchgeführt werden bzw. einzelne Zwecke auf verschiedenen Stufen ausgeschieden werden (Beispielsweise kann ein Eingriff zur Erreichung eines der Zwecke ungeeignet sein).[6]
2. Legitimes Mittel
Die Frage der Legitimität des Mittels wirft selten Probleme auf. Zu beachten ist allerdings, dass es per se illegitime Mittel gibt (z.B. Zensur, Art. 5 I S. 3 GG und Todesstrafe, Art. 102 GG).
II. Geeignetheit
Hier werden nur solche Mittel ausgesondert, die zur Erreichung des Zweckes „schlechthin ungeeignet“[7] sind. Es genügt also wenn das Mittel die Erreichung des Zwecks zumindest fördert.
Dem Gesetzgeber wird zudem ein Prognosespielraum zugestanden.
III. Erforderlichkeit
Erforderlichkeit liegt vor, wenn kein milderes Mittel zur Zweckerreichung in Frage kommt oder mildere Mittel zur Zweckerreichung nicht gleich geeignet sind
In Bezug auf die gleiche bzw. bessere Eignung ist dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative (auch Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum) eingeräumt.[8]
Im Rahmen des Vergleichs mehrerer Mittel sind Eigenart und Intensität des Eingriffs, die Zahl der Betroffenen, belastende oder begünstigende Einwirkungen auf Dritte und Nebenwirkungen der belastenden Maßnahme zu berücksichtigen.[9]
Hinweis: Hier sollte meist mindestens ein anderes Mittel diskutiert werden. Wird im Sachverhalt kein solches erwähnt, so ist Kreativität gefordert.
IV. Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit i.e.S.)
Hier muss die Schwere des Grundrechtseingriffs mit dem Nutzen des verfolgten Zweckes abgewogen werden. Die Angemessenheit ist dann gewahrt, wenn der Grundrechtseingriff nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck steht.[10]
Um eine saubere Vorstrukturierung der eigentlichen Abwägung zu erreichen, sollte zunächst die abstrakte Wertigkeit von Mittel und Zweck und danach die konkrete Schwere des Eingriffs und der konkrete Grad der Zweckerreichung ermittelt werden. Die Angemessenheit gliedert sich damit in die folgenden drei Schritte.[11]
1. Abstrakte Wertigkeit
Es muss einerseits die abstrakte Wertigkeit des Mittels andererseits die abstrakte Wertigkeit des Zwecks festgestellt werden. Eine abstrakt höhere Wertigkeit von Mittel oder Zweck führt zu einem Abwägungsvorsprung.[12]
a) Abstrakte Wertigkeit des Mittels
Wie wichtig ist das Grundrecht in welches eingegriffen wurde (z.B. vorbehaltlose Grundrechte sind von hoher abstrakter Wertigkeit)? Ist der Kernbereich des Grundrechts betroffen? Sind Schutzbereichsverstärkungen zu beachten (z.B. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)? Liegt ein abgestuftes Schutzkonzept vor (z.B. Art 12 I GG)?
Bsp.: Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) < spezielle Grundrechte (z.B. Art. 8 Abs. 1 GG).
b) Abstrakte Wertigkeit des Zwecks
Wie wichtig ist der Zweck der mit dem Grundrechtseingriff verfolgt wurde? Zwecke von Verfassungsrang (z.B. Umweltschutz Art. 20 a GG) sind bedeutender als Zwecke, die nur einfachgesetzliche oder gar keine rechtliche Ausprägung gefunden haben.
Die Wichtigkeit des Zwecks kann auf einer (groben) dreistufigen Skala von leicht, mittelschwer bis schwergewichtig eingestuft werden.[13]
Bsp.: Der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist von herausragender Bedeutung (schwergewichtig), während der Schutz der Gehwege vor Verschmutzung nur untergeordnete Bedeutung hat.
2. Konkrete Bewertung
Im Rahmen der konkreten Wertigkeit gilt es die konkrete Schwere des Eingriffs und den Grad der Zweckerreichung festzustellen.
a) Konkrete Schwere des Eingriffs
Die konkrete Schwere des Eingriffs kann auf einer groben Skala von leicht, mittel bis schwer bewertet werden.[14]
Die konkrete Schwere ist abhängig davon, wie oft, wie lange und wie intensiv in das betroffene Grundrecht eingegriffen wurde.[15]
Zu beachten sind auch Ausnahmeregelungen, Übergangsfristen etc., die die Schwere des Eingriffs abmildern können.
b) Grad der Zweckerreichung
Hier gilt es den Grad des Umfanges sowie die Wahrscheinlichkeit der Zweckerreichung zu bewerten. Je wahrscheinlicher es ist, dass der verfolgte Zweck erreicht wird und je umfangreicher der Zweck erreicht wird, desto höher der konkrete Grad der Zweckerreichung.
3. Abwägung der widerstreitenden Belange
Im letzten Schritt gilt es aus den gefundenen Ergebnissen eine Gesamtbilanz zu ziehen. Häufig wird sich hier eine klare Tendenz ergeben. Ist beispielsweise die konkrete wie abstrakte Schwere des Eingriffs besonders hoch und wird mit dem Eingriff nur ein untergeordneter Zweck verfolgt, dessen Verwirklichung noch dazu unwahrscheinlich ist, so liegt das Ergebnis auf der Hand.
Manchmal dagegen kommt es zu schwierigen Abwägungsfragen oder gar Pattsituationen. Beispielsweise könnte der Eingriff sowohl abstrakt als auch konkret schwer sein, der verfolgte Zweck aber ein Zweck von Verfassungsrang sein (schwergewichtig), welcher noch dazu mit 100% Wahrscheinlichkeit vollumfänglich erreicht wird. In diesen Situationen kann es helfen, den „Joker“ der Kontrolldichte zu ziehen.[16]
Abhängig von der Kontrolldichte sind die staatlichen Argumente unterschiedlich streng zu überprüfen. Als Kontrollmaßstäbe kommen eine intensive inhaltliche Kontrolle, die Vertretbarkeitskontrolle und die bloße Evidenzkontrolle in Betracht. Die Wahl des Kontrollmaßstabs ist abhängig von der Intensität des Grundrechtseingriffs und eventuellen Unsicherheiten in Bezug auf Prognoseentscheidungen und muss im konkreten Fall begründet werden.[17]
Im Zweifel wird das BVerfG keine Verfassungswidrigkeit feststellen, um nicht die eigene Meinung an die Stelle der Wertungen des Gesetzgebers oder der Verwaltung (welcher Ermessensspielräume durch den Gesetzgeber eingeräumt wurden) zu setzen.[18] Die Kontrolldichte sollte allerdings stets nur als letztes „Argument“ gebracht werden. Keinesfalls ersetzt der Hinweis darauf eine saubere Vorstrukturierung und Abwägung.
Zur Vertiefung aus der aktuelleren Ausbildungsliteratur:
Kluckert, Die Gewichtung von öffentlichen Interessen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung, JuS 2015, 116 ff.
Klatt/Meister, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, JuS 2014, 193 ff.
Michael/Morlok, Grundrechte, 4. Auflage, 2014, Rn. 611 ff.
Reuter, Thomas, Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne – das unbekannte Wesen, JURA, 2009, S. 511 ff.
Voßkuhle, Grundwissen – Öffentliches Recht: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, JuS 2007, 429 ff.
© Markus Heintzen und Heike Krieger (Freie Universität Berlin) Bearbeitung für Hauptstadtfälle: Andreas Buser Stand der Bearbeitung: November 2015 |
[1] Auch in der Literatur wird die Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit teilweise als subjektiv geprägt und irrational empfunden, dazu: Klatt/Meister, JuS 2014, 193 (194) mit Verweis auf Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, 79; Habermas, Between Facts and Norms, 1996, 258; Webber, Canadian Journal of Law and Jurisprudence 2010, 179.
[2] Die besondere Bedeutung der Angemessenheit für die Punktevergabe betonen auch: Vosskuhle, JuS 2007, 429 (431); Reuter, JURA 2009, 511 (512) und Klatt/Meister, JuS 2014, 193 (196).
[3] Zum Objektivitätsproblem der Abwägung: Klatt/Meister, JuS 2014, 193 (198 f.).
[4] Dazu: Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 615.
[5] Dazu: Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 634.
[6] Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 618.
[7] BVerfGE 30, 250 (262 ff.); 55, 28 (30); 65, 116 (126).
[8] Siehe nur: Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 621; Klatt/Meister, Jus 2014, 193 (195).
[9] Siehe nur: Reuter, JURA 2009, 511 (513) m.w.N.
[10] Siehe aus der Rspr.: BVerfGE 50, 217 (227); 80, 103 (107); 99, 202 (212 f.).
[11] So auch: Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 618; Reuter, JURA 2009, 511 (515) m.w.N.; Klatt/Meister, JuS 2014, 193 (196).
[12] Klatt/Meister, JuS 2014, 193 (197).
[13] Klatt/Meister, JuS 2014, 193 (196).
[14] Klatt/Meister, JuS 2014, 193 (196).
[15] Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 625.
[16] Dazu: Klatt/Meister, JuS 2014, 193 (199).
[17] Dazu: Klatt/Meister, JuS 2014, 193 (199) m.w.N.
[18] Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 626; Reuter, JURA 2009, 514 f.