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Bericht über den Workshop „Zur Relevanz von Zeit im Recht“ im Rahmen der strategischen Partnerschaft zwischen der Universität Zürich und der Freien Universität Berlin

Einige Teilnehmer des Workshops

Einige Teilnehmer des Workshops
Bildquelle: privat

News vom 19.10.2023

Am 9. und 10. Oktober 2023 fand unter dem Titel „Zur Relevanz von Zeit im Recht“ in der Engler Villa der Freien Universität Berlin ein Workshop statt, der von Prof. Dr. Andreas Thier (Universität Zürich) und Prof. Dr. Cosima Möller (Freie Universität Berlin) im Rahmen der strategischen Partnerschaft der Universität Zürich und der Freien Universität Berlin gemeinsam organisiert worden war (Ablaufplan des Workshops).

Anknüpfend an die Ergebnisse des ersten Workshops, der am 17. und 18. März 2021 unter dem Titel „Zeit und Recht“ stattfand, sollte die Erkundung des Verhältnisses von Zeit und Recht weitergeführt werden. Die Teilnehmer des Workshops gingen dem Thema aus der Perspektive ihrer persönlichen Forschungsschwerpunkte auf den Grund. Stets ging es darum, Berührungspunkte von Zeit und Recht zu identifizieren und mit allgemeinen Fragestellungen in Verbindung zu setzen: Welchen Einfluss hat der Ablauf von Zeit auf das Recht? Und wie kann das Recht die Zeit einhegen und nutzbar machen?

Der Workshop wurde mit der geschichtlichen Perspektive auf das Recht als eine gewachsene Ordnung eröffnet. Prof. Dr. Cosima Möller untersuchte den Umgang mit dem römischen Recht als Tradition. Bereits in der Antike besaß es eine eigene Geschichtlichkeit, während der Rezeption wurde es neuen Verhältnissen anverwandelt und mit der Betonung von Wissenschaftlichkeit prägt es auch die Gegenwart rechtskulturell. Die Spuren zeichnete sie im Privatrecht unter anderem anhand von Informationspflichten im Kaufrecht nach. Die Nutzung der Vergangenheit als Argument zur Gestaltung der Zukunft beschäftigte Prof. Dr. Andreas Thier. Bei der Betrachtung der Beispiele des Papstwahldekrets von 1059, dem Bild des potentiell strafenden Gottes in der Reichspolizeiordnung 1548 und der gemeinrechtlichen Figur der praesumptio ex tempore wurden jeweils unterschiedliche, lineare Vorstellungen von Zeit erkennbar. Die Völkerrechtsgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts betrachtete Prof. Dr. Elisabetta Fiocchi Malaspina. Sie beleuchtete den Versuch, in internationalen Verträgen mit Begriffen wie sanctity einen überzeitlichen Bezug und eine dauerhafte Bindung herzustellen, und das Verhältnis einer solchen Vertragssprache zur Berufung auf eine clausula rebus sic stantibus, mit der wechselnden Zeitumständen Rechnung getragen wird.

Prof. Dr. José Luis Alonso widmete sich dem antiken römischen Zivilprozess, indem er die Verzeitlichung des Rechts durch die litis contestatio, der Streitgewährung und Prozessbegründung, in den Kontext einer Ontologisierung des Rechts stellte. Der streitige Sachverhalt wurde eingefroren und in dieser Form Gegenstand richterlicher Entscheidung; befristete Klagen wurden ab diesem Zeitpunkt perpetuiert. Dadurch wurde der Anspruch gegen die Zeit immun gemacht. So bleibt die Zeit im Prozessrecht stehen, während sie im materiellen Recht, wie zum Beispiel bei der Ersitzung, weiterläuft. Verschiedene rechtliche Definitionen von Zeit, die zu Phänomen von Pluritemporalität führen, wurden auch bei Prof. Dr. Olaf Muthorst erkennbar, der den Begriff der Grenze der Rechtskraft im Zivilprozess auf seine zeitliche Komponente hin überprüfte. Einerseits wird der Streitgegenstand durch das Vorbringen der Parteien und die Grenze der Präklusion mit dem Schluss der mündlichen Verhandlung zeitlich konstituiert, andererseits läuft der zugrundeliegende Lebenssachverhalt weiter. Eine Wiedereröffnung des Verfahrens oder eine Abänderung der Entscheidung ermöglichen eine nachträgliche Synchronisation der Zeitabläufe nur unter engen Voraussetzungen. Das Verfallsdatum der Rechtskraft erweist sich als inhaltlich begründet und nicht nur zeitlich determiniert. Unterschiedliche Zeitlinien finden sich auch bei Versicherungsverträgen, wie sich beim Vortrag von Prof. Dr. Leander D. Loacker herausgestellt hat. Durch die Unterscheidung von formeller und materieller Dauer wird neben einer Vorwärtsversicherung für zukünftige Risiken auch eine Rückwärtsversicherung hinsichtlich einer in der Vergangenheit liegenden Unsicherheit möglich. Bei der zeitlich nahtlosen Aneinanderreihung von Versicherungsverträgen besteht das Risiko von Haftungslücken, da unterschiedliche vertragliche Definitionen des Versicherungsfalls und damit der rechtlichen Bewertung von Zeit möglich sind. Die rechtliche Bewertung von Zeit spielt auch bei der Diskussion über zulässige Vertragslaufzeiten eine Rolle.

Die Zeit wird in vielen Bereichen des Rechts als Frist eingesetzt. Prof. Dr. Katharina de la Durantaye untersuchte die theoretischen Grundlagen und unterschiedlichen Rechtfertigungen des Urheberrechts, wie auch die Umstände der rechtlichen Regelung seit dem 19. Jahrhundert, aufgrund deren heute auf der Welt im Regelfall eine urheberrechtliche Schutzfrist während der Lebenszeit einschließlich weiterer 70 Jahre nach dem Tod gilt. Für die Festlegung der Schutzfrist spielten die persönlichkeitsrechtliche oder die utilitaristische Begründung eine wesentliche Rolle. Für die weltweite Verbreitung der heutigen Regelung war auch die Verflechtung der Rechtsordnungen ein bedeutender Faktor. Eine Vielzahl von Fristen erläuterte Prof. Dr. Roger Rudolph im schweizerischen arbeitsrechtlichen Kündigungsrecht. Die Zeit wirkt hier als Schlüsselgröße. Verschiedene vertragliche oder gesetzliche Kündigungsfristen und der Kündigungsschutz bestimmen die Dauer des Arbeitsverhältnisses; zudem eröffnet die Unterscheidung von Lebens- und Arbeitszeit ein Feld von Pluritemporalität, das die rechtliche Gestaltung beeinflusst.

Schließlich rückte Prof. Dr. Felix Uhlmann die Zeit als Faktor in der Gesetzgebung ins Blickfeld. Zum einen stellte er die Relevanz von Zeit als Voraussetzung guter Gesetzgebung heraus, wie es das BVerfG zuletzt im Eilbeschluss zum Gebäudeenergiegesetz angemahnt hat. Zum anderen befasste er sich mit der Notwendigkeit, die Wirksamkeit neuer Regeln durch Übergangs- oder Rückwirkungsvorschriften zu sichern. Prof. Dr. Markus Heintzen zeigte, dass die Dauer des Verwaltungsverfahrens grundsätzlich nicht durch Fristen begrenzt wird, sondern vom Ermessen der Behörde abhängig ist. Doch gibt es gesetzlich geregelte Instrumente zur Beschleunigung des Verfahrens zugunsten des Bürgers, wie auch zugunsten der Behörde. Als eine Ausnahme von der Regel behördlichen Ermessens sieht das öffentliche Vergabeverfahren aus Gründen des Rechtsschutzes für unterliegende Bewerber streng befristete Verfahrensschritte vor.

Leider sind die Vorträge von Prof. Dr. Helmut Aust zum Völkerrecht der indigenen Völker und von Prof. Dr. Ignacio Czeguhn zur Entwicklungsgeschichte von Prozessverschleppung und Prozessbeschleunigung wegen Erkrankung der Referenten ausgefallen.

Den Vorträgen folgten angeregte und aufschlussreiche Diskussionen, durch die allgemeine Phänomene und zentrale Aspekte für weitere Analysen aufgedeckt wurden. Das Thema der Relevanz von Zeit im Recht fügt sich dabei in den Kontext des temporal turn in den Geisteswissenschaften, der seit einigen Jahren vor allem in den Geschichtswissenschaften eine Auseinandersetzung mit Fragen der Temporalität inspiriert. Ein Beispiel ist das seit 2019 an der Freien Universität Berlin laufende Exzellenz-Cluster der Temporal Communities. Die Beschäftigung mit der Relevanz von Zeit im Recht eröffnet neue Perspektiven, stiftet Zusammenhänge über verschiedene rechtliche Themenfelder hinweg und kann durch eine Öffnung zu anderen Disziplinen weitere Erkenntnisse zeitigen.

Max Rinckens / Cosima Möller

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