Vicuñas (Sachverhalt)
Vicuñas sind niedliche kamelartige Tierchen, die vornehmlich auf Hochebenen um die 4000 m in den Anden Südamerikas vergnügt umherspringen und dabei gelegentlich "unter die Räder" eiliger Touristenbusse geraten. Ihre Wolle gilt als besonders fein und wärmend. Das Modeunternehmen Altiplano GmbH hält in Bolivien zur Herstellung dieser Wolle tausende der Tiere in sog. Vicuña-Farmen. Dabei werden die sensiblen Tiere in viel zu kleinen Räumen zusammengepfercht und mit nicht artgerechtem Futter gemästet, um ihr Fell „auf Hochglanz“ zu bringen. Die Wolle verarbeitet das Unternehmen zu trendigen „chullos“, das sind Mützen mit Seitenklappen und Zöpfen, die vor allem von ebenso trendigen Bewohnern einschlägiger Berliner Stadtbezirke trotz ihrer hervorragenden Wärmeeigenschaften primär als Coolness-Faktor geschätzt werden. In der Kastanienallee in Berlin betreibt die Altiplano GmbH eine Filiale, in der dieses Jahr wegen der unerwartet frühlingshaften Dezembertemperaturen noch viele „chullos“ in den Winterschlussverkauf gehen.
Tierschützer Ole Mikaelson (ein deutscher Staatsbürger), der nach seinem Abitur am Jochen-Löwe Gymnasium mit dem Jura-Studium begonnen hatte, hat nach den Examensklausuren endlich wieder Zeit, seine öffentliche Facebook-Seite „Das Tier sei dem Menschen ein Mensch“ zu pflegen. Bei seinen Recherchen stößt er im Internet am Freitag, den 27.1.2018, frühmorgens auf einen Bericht über die oben beschriebenen grauenhaften Haltungsbedingungen. R ist entsetzt über solches Leid in der Welt. Da er nach dem Elend der Klausuren aber auch ein bisschen Spaß haben will, ruft er auf seiner oben genannten Facebook-Seite zu einer „Spontanaktion“ am Samstag, den 28.1.2018, um 11 Uhr unter dem Motto „Fun for Vicuñas“ auf. Ein späteres Datum komme nicht in Betracht, da am 28.1.2018 der Winterschlussverkauf zu Ende geht. Die „chullos“ sollen an diesem Tag mit einem Extra-Rabatt verkauft werden und am Ende des Tages aus dem Sortiment genommen werden. Dem Aufruf ist ein Link zu dem oben genannten Bericht über die Haltungsbedingungen beigefügt mit der Bemerkung, dass auch der Spaßfaktor nicht zu kurz kommen solle. Ole ist auf der Facebook-Seite als „Initiator“ der Veranstaltung angegeben und kann über seine IP-Adresse identifiziert werden. Nach der Veranstaltungsbeschreibung sollen sich die Teilnehmer mit aufgezogenen „chullos“ und mit blutroten T-Shirts bekleidet vor der Filiale der Altiplano GmbH einfinden und immer wieder „Tierquälerei, stoppt die Vicuña-Haltung“ rufen. Dabei sollen die Teilnehmer die Mützen in die Luft werfen, um sodann einen Klageruf der bolivianischen Quechua zu brüllen und schließlich in ein kollektives Lachen auszubrechen. Das Ganze soll nicht länger als 5 Minuten dauern. Ole kommt dabei keine besondere Rolle zu, die Teilnehmer sollen die Aktion selbständig durchführen.
Eine Schaltfläche auf der Facebook-Seite erlaubt im Hinblick auf die Teilnahme die Rückmeldung „ja“, „nein“, „vielleicht“. Bis Freitag, den 27.1.2019 um 12 Uhr haben 12 Nutzer mit „ja“, 10 mit „nein“ und 15 mit „vielleicht“ geantwortet. Etwa die Hälfte der Nutzerkommentare betont den Spaßcharakter der bevorstehenden Veranstaltung, die andere Hälfte nimmt Bezug auf den Bericht über die Haltungsbedingungen. Am Samstag, den 28.1.2015, erscheinen zur verabredeten Uhrzeit 17 Teilnehmer und führen die Aktion wie geplant unter Mitwirkung Oles durch. Einige Passanten finden die Darbietung einfach nur lustig, andere kaufen wegen ihres schlechten Gewissens keine „chullos“.
Die Freude über die gelungene Aktion währt jedoch nur kurz. Ole Mikaelson wird vom zuständigen Strafgericht wegen Verstoßes gegen die Anzeigepflicht aus § 14 VersammlG zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen à 15 Euro verurteilt. Nach Erschöpfung des Rechtsweges möchte er Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erheben.
Ole ist der Meinung, bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 26 Nr. 2 VersammlG lägen nicht vor, weil ein „Initiator“ kein „Veranstalter“ sei. Dies müsse auch das Bundesverfassungsgericht etwas angehen, schließlich sei ein Strafurteil ein starker Eingriff und letztlich gehe es ja um die Versammlungsfreiheit. Zudem könne er aus § 26 Nr. 2 VersammlG nicht erkennen, dass er sich bei unterlassener Anmeldung strafbar mache, zumal anerkannt sei, dass bei Spontanversammlungen keine Anmeldepflicht bestehe und er jedenfalls die 48-Stundenfrist beim besten Willen nicht habe einhalten können. Schließlich sei zu berücksichtigen, dass von seiner „Mini-Versammlung“ keine Gefahr habe ausgehen können. Strafrechtliche Sanktionen seien da völlig fehl am Platz.
Hat die Verfassungsbeschwerde des Ole Mikaelson Aussicht auf Erfolg?
Bearbeitervermerk: Art. 5 Abs. 1 GG ist nicht zu prüfen.
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© Heike Krieger (Freie Universität Berlin) und Markus Heintzen (Freie Universität Berlin)
Bearbeitung für Hauptstadtfälle: Johannes Seidl (Überarbeitung: Björnstjern Baade)
Stand der Bearbeitung: August 2018