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Freigesetzt! (Kurzlösung)

Die Verfassungsbeschwerde Thomas Teufelsbergs hat Erfolg, soweit sie zulässig und begründet ist.

 

A. Zulässigkeit

I. Beteiligtenfähigkeit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: „jedermann“)

(+), Teufelsberg ist Grundrechtsträger und damit „jedermann“ i.S.d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG

 

II. Beschwerdegegenstand (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: „Akt der öffentlichen Gewalt“)

(+), VB ausschließlich gegen die Entscheidung des BAG gerichtet, diese ist als letztinstanzliches Gerichtsurteil ein „Akt der öffentlichen Gewalt“ i.S.d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG

 

III. Beschwerdebefugnis (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG: „Behauptung, in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein“)

Grundrechtsverletzung nicht von vorneherein ausgeschlossen?

(+),staatliche Schutzpflicht gegen willkürliche, insb. Diskriminierende Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus Art. 12 Abs. 1 GG 

(+), eigene, gegenwärtige und unmittelbare Beschwer

(+), BAG konnte Rechtsanwendung LAG vollumfänglich prüfen (§ 73 ArbGG), keine Aufhebung seines Urteils (gem. § 72 Abs. 5 ArbGG i.V.m. § 562 Abs. 1 ZPO) Schutz verwehrt

IV. Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) und „Subsidiarität“ der Verfassungsbeschwerde

(+), kein weiterer Rechtsbehelf gegen Entscheidungen des BAG; auch keine sonstige Möglichkeit zur Durchsetzung des vermeintlichen Rechts erkennbar

 

V. Frist (§ 93 Abs. 1 BVerfGG)

(+), Monatsfrist des § 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG eingehalten

 

VI. Ergebnis zu A.

Verfassungsbeschwerde insgesamt zulässig

 

B. Begründetheit

Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit Teufelsberg durch die Entscheidung des BAG in seinen Grundrechten verletzt ist

 

BVerfG prüft dabei gem. § 90 Abs. 1 BVerfGG lediglich Verletzungen spezifischen Verfassungsrechts

 

Indem das BAG die Kündigung für wirksam hält, könnte es Art. 12 Abs. 1 GG verletzt haben; dafür müsste sich aus dem Grundrecht ein gegen den Staat gerichteter Anspruch des Arbeitnehmers auf staatlichen Schutz vor Kündigungen des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber ergeben, dem das BAG nicht nachgekommen ist

 

I. Recht auf staatlichen Schutz des Arbeitnehmers vor Kündigungen des Arbeitgebers aus Art. 12 Abs. 1 GG

Art. 12 Abs. 1 GG: auch Garantie der freien Arbeitsplatzwahl: Entscheidung, an welcher Stelle dem gewählten Beruf nachgegangen wird = Entscheidung für konkretes Arbeitsverhältnis

Schutzumfang: Entschluss, eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit zu ergreifen, bei abhängig Beschäftigten auch Wahl des Vertragspartners + Willen des Einzelnen, konkrete Beschäftigung beizubehalten oder aufzugeben

Schutz vor allen staatlichen Maßnahmen die diese Wahlfreiheit einschränken; kein Anspruch auf Arbeitsplatzbereitstellung + keine Bestandsgarantie für gewählten Arbeitsplatz und kein unmittelbarer Schutz gegen Arbeitsplatzverlust durch private Disposition (keine unmittelbare Drittwirkung)

GG sieht Privatautonomie als geeignet an, gegenläufige Interessen der Beteiligten angemessen auszugleichen und Staat hat in diesem Rahmen getroffenen Regelungen zu respektieren

Angemessener Ausgleich durch Privatautonomie aber nur, solange ein Vertragsteil faktisch kein so starkes Übergewicht hat, dass er Regelungen diktieren kann

BVerfG: Arbeitsrecht muss berücksichtigen: berufliche Tätigkeit ist wirtschaftliche Existenzgrundlage für Arbeitnehmer und seine Familie; Beendigung des Arbeitsverhältnisses stellt wirtschaftliche Existenzgrundlage in Frage; existenzielle Abhängigkeit hat regelmäßig Übergewicht des Arbeitgebers bei Gestaltung arbeitsrechtlicher Beziehung zur Folge; Arbeitnehmer bei Prinzip der freien Kündigung Willkür Arbeitgeber ausgeliefert

Art. 12 Abs. 1 GG: staatliche Schutzpflicht zugunsten aller Arbeitnehmer:

- Schutz vor willkürlichen und auf sachfremde Motive gestützten Kündigungen

- Soziale Rücksichtnahme bei Auswahl zwischen Arbeitnehmern

- Berücksichtigung von durch langjährige Mitarbeit verdientem Vertrauen

 

II. Verwirklichung des Schutzauftrags aus Art. 12 Abs. 1 GG durch das BAG

(-), wenn es entweder Normen angewendet hat, die diesem Schutzauftrag nicht Genüge tun, oder in Auslegung dieser Normen einen Rechtssatz aufgestellt hat, der, wäre er vom Gesetzgeber erlassen worden, seinerseits diesem Schutzauftrag nicht genügen würde.

 

1. Verwirklichung der Schutzpflicht durch das geltende Kündigungsschutzgesetz

Kündigungsschutzrecht schränkt Kündigungsfreiheit des Arbeitgebers ein; Unterscheidung von personen-, verhaltens- und betriebsbedingten Kündigungen (§ 1 Abs. 1 KSchG i.V.m. § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG)

Betriebsbedingte Kündigung (§ 1 Abs.3 bis 5 KSchG): Vorbehalt der richtigen Sozialauswahl

Personen-/verhaltensbedingte Kündigung (§ 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG): Unzumutbarkeit = objektiv nachprüfbare sachliche Gründe; umfassende Abwägung Bestandschutz- und Beendigungsinteresse

- Anforderungen Schutzauftrag Art. 12 Abs. 1 GG (+)

 

2. Verwirklichung der Schutzpflicht außerhalb des Anwendungsbereiches des Kündigungsschutzgesetzes

Fraglich, ob die Ausnahme von Kleinbetreiben nach § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG mit der Schutzpflicht aus Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar ist

 

a) Verstärkte Schutzbedürftigkeit des Arbeitgebers

BVerfG: (+), Geschäftserfolg in Kleinbetrieben mehr vom einzelnen Arbeiter abhängig; weniger leistungsfähiges, weniger benötigtes oder weniger genehmes Personal wirkt sich bei geringem Geschäftsvolumen spürbar auf Betriebsergebnis aus

b) Notwendigkeit eines Mindestschutzes für Arbeitnehmer auch in Kleinbetrieben

(+), trotz gesteigerter Schutzwürdigkeit Mindestmaß an Kündigungsschutz für jedes Arbeitsverhältnis und auch für Arbeitnehmer in Kleinbetrieben Schutz vor Kündigungen aus willkürlichen/ sachfremden Motiven

§ 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG verfassungswidrig, da kein Willkürschutz?

 

c) Möglichkeit eines Rückgriffs auf die zivilrechtlichen Generalklauseln zur Gewährleistung des Mindestschutzes

Schutz vor willkürlichen/sachfremden Kündigungen durch § 242 und § 138 Abs. 1 BGB?

Argumente:

- vor Inkrafttreten des Kündigungsschutzgesetzes bereits Kündigungsschutz durch Rechtsprechung auf Grundlage von Generalklauseln gewährt

- Genügt der Schutzpflicht aus Art. 12 Abs. 1 GG: Bei Fehlen spezialgesetzlicher Regelung Auftrag des Richters, objektiven Grundentscheidungen der Grundrechte mittels Generalklauseln zur Wirkung zu verhelfen

Aber: Rückgriff auf Generalklauseln spezialgesetzlich ausgeschlossen?

TdLit: (+), § 1 i.V.m. § 23 KSchG enthält Wertung, dass dort zu würdigende Umstände außerhalb Anwendungsbereich § 1 KSchG keine Verstöße gegen Generalklauseln

Argument: frühere Ausgestaltung des § 4 KSchG

Aber: Durch Arbeitsmarktreformgesetz geändert; Nach Gesetzgeber kann es Kündigungsschutz außerhalb § 1 KSchG geben

à kein spezialgesetzlicher Ausschluss

 

d) Ergebnis zu 2.

Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG ist verfassungsgemäß; BAG hat spezifisches Verfassungsrecht nicht schon dadurch verletzt, dass es in Anwendung des § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG von der Nichtanwendbarkeit des § 1 KSchG ausging

 

3. Bedeutung des § 2 Abs. 4 AGG

Kein Schutz vor Benachteiligungen wegen der sexuellen Orientierung bei Kündigungen wegen § 2 Abs. 4 AGG?

 

(-), § 2 Abs. 4 AGG soll lediglich Anwendung der Normen des AGG, die zur Unwirksamkeit von Kündigungen führen könnten, neben den speziellen Vorschriften des KSchG verhindern

 

4. Verwirklichung der Schutzpflicht durch Gericht

(-), BAG hat Kündigung nicht an zivilrechtlichen Generalklauseln gemessen, jeglichen Kündigungsschutz versagt, Art. 12 Abs. 1 GG verletzt

BAG hätte im Rahmen der Generalklauseln Bestands- und Beendigungsinteresse gegeneinander abwägen müssen

Hier: Bestandsinteresse des Arbeitnehmers überwiegt Interesse Arbeitgeber, keine Homosexuellen zu beschäftigen; andernfalls Eingriff in grundrechtlich besonders geschützten Intimbereich des Arbeitnehmers

 

III. Ergebnis zu B.

- Schutzpflicht aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt; Verfassungsbeschwerde begründet

 

C. Gesamtergebnis

- Teufelsbergs Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet, hat Erfolg; BVerfG wird nach § 95 Abs. 1 BVerfGG den Verstoß feststellen und die BAG-Entscheidung aufheben; andere Entscheidungen können nicht aufgehoben werden, weil Verfassungsbeschwerde ausdrücklich nur gegen BAG-Urteil erhoben wurde; Zurückverweisung an das BAG nach § 95 Abs. 2 BVerfGG


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© Klaus Grupp (Universität des Saarlandes) und Ulrich Stelkens (Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer)

Bearbeitung für Hauptstadtfälle: Jan-Peter Wiepert, Franziskus Baer

Stand der Bearbeitung: November 2018