Luftangriff (Kurzlösung)
A) Erste Frage: Zulässigkeit des vom Brandenburg angestrengten Bund-Länder-Streits
Ausdrückliche Anstrengung eines Bund-Länder-Streits durch brandenburgische Landesregierung à keine Antragsauslegung oder -umdeutung durch BVerfG zur Rechtsschutzoptimierung im Sinne einer Optimierung des Rechtsschutzes à Beschränkung der Zulässigkeitsprüfung auf Bund-Länder-Streitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, § 13 Nr. 7, §§ 68ff. BVerfGG)
I. Beteiligtenfähigkeit des Antragstellers (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, § 68 BVerfGG)
(+), Beteiligtenfähig im Bund-Länder-Streit nur Bund und Länder à hier: Antragstellung durch brandenburgische Landesregierung für Land Brandenburg
II. Beteiligtenfähigkeit des Antragsgegners (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3, § 68 BVerfGG)
(+), Bund grundsätzlich tauglicher Antragsgegner im Bund-Länder-Streit; Vertretung durch BReg à Antrag trotz BTag-Maßnahme an BReg zu richten
III. Tauglicher Bund-Länder-Streitgegenstand (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, § 69 i.V.m. § 64 Abs. 1 BVerfGG)
Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG: "Meinungsverschiedenheit über die Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder"
§ 69 i.V.m. § 64 Abs. 1 BVerfGG: "Maßnahme oder Unterlassung" des Antragsgegners
BVerfG: zulässige bzw. sogar gebotene Ausgestaltung als kontradiktorisches Verfahren durch BVerfGG
Hier: Angriff des 1. LuftSiGÄndG als solches; Gesetz keine Maßnahme des Bundes, nur Ergebnis einer Bundesmaßnahme = Gesetzgebungsakt bzw. Gesetzeserlass
(P) Gesetzgebungsakt zulässiger Bund-Länder-Streitgegenstand?
Gegenargument:
Vorrang der abstrakten Normenkontrolle à keine Nichtigkeitserklärung der Norm (§ 78 BVerfGG), nur Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Gesetzgebungsakts im Bund-Streit-Verfahren (§ 69 i.V.m. § 67 BVerfGG)
BVerfG: Verfahrensrangfolge (-)
Argument:
Unterschiedliche Verfahrensinteressen à aNK: Unvereinbarkeitsfeststellung und Nichtigkeitserklärung, B-L-Streit: Feststellung der Verletzung verfassungsrechtlich geschützten Landesrechten
Antragsteller im B-L-Streit ist Land, im aNK-Verfahren bestimmte Landesorgane
- Erlass des 1. LuftSiGÄndG tauglicher Gegenstand des Bund-Länder-Streits
IV. Antragsbefugnis (§ 69 i.V.m. § 64 Abs. 1 BVerfGG)
Keine allgemeine Verfassungsaufsicht der Länder über Bund ànur (+), wenn Brandenburg durch Erlass des 1. LuftSiGÄndG Verletzung verfassungsrechtlicher Rechtspositionen geltend machen kann, die Rechtsbeziehungen zwischen der Bundes- und der Landesstaatsgewalt betreffen
1. Antragsbefugnis wegen Verletzung der Art. 30, Art. 70ff. und Art. 83ff. GG
(+) Gesetzgebungs-/ Verwaltungskompetenzregelungen unbestritten im B-L-Streit durchsetzbare Rechtspositionen
2. Antragsbefugnis wegen Übertragung der Luftsicherheitsaufgaben gerade auf die Bundespolizei
Verstoß gegen „Wesen“ der Bundespolizei als Bundesgrenzschutzbehörde (Art. 87 ABs. 1 Satz 2 GG) = Verletzung von Landesrechten?
Grds. (-), da keine Regelung der organisatorischen Ausgestaltung der Bundesverwaltungseinrichtungen durch Art. 86ff. GG àSpielraum des Bundes bei bundeseigener Verwaltungsorganisation; betrifft nur Verfassungsraum des Bundes
Hier dennoch (+), nicht von vornherein ausgeschlossen, dass Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG Errichtung einer allgemeinen Bundespolizei in Konkurrenz zu Landespolizeibehörden ausschließt (Gestattung nur von Bundesgrenzschutzbehörden (= Bundespolizei, vgl. § 2 BPolG) àverfassungsrechtliche Garantie der grundsätzlichen „Polizeigewalt“ der Länder
3 Antragsbefugnis wegen Verletzung des Art. 87a Abs. 2 GG
Herleitung von Landesrechten aus Art. 87a Abs. 2 GG?
(+), Norm nicht nur bürgerschützenden Zweck, dient auch gliedstaatlicher Souveränität (vgl. Art. 87a Abs. 4 i.V.m. Art. 91 Abs. 2 GG)
4. Antragsbefugnis wegen Grundrechtsverletzungen
Grds. (-), Länder weder Grundrechtsträger noch „Sachwalter“ des Einzelnen, keine Garantenstellung gegenüber Bund für Grundrechtseinhaltung
Nur (+), bei grobem Verfassungsverstoß, bei unmittelbarer Gefährdung der Allgemeinheit in Leben und Gesundheit oder sonstiger Grenze verantwortbaren Handelns durch Bund, hier (-), da kein absoluter Lebensschutz unter GG (Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG)
- (-)
4. Ergebnis zu III
Antragsbefugnis (+) bzgl. Art. 30, Art. 70ff., Art.83ff. und Art. 87a Abs. 2 GG, (-) bzgl. Grundrechten
V. Form und Frist (§ 69 i.V.m. § 64 Abs. 3 BVerfGG)
(+), laut Sachverhalt
VI. Ergebnis zu A
Antrag zulässig bzgl. Rüge der Verletzung von Art. 30, Art. 70ff., Art. 83ff. und Art. 87a Abs. 2 GG durch Erlass des 1. LuftSiGÄndG
B) Zweite Frage: Verfassungsmäßigkeit der §§ 13ff. LuftSiG i.d.F. des 1. LuftSiGÄndG
I. Gesetzgebungskompetenz des Bundes für den Erlass des 1. LuftSiGÄndG
Art. 73 Nr. 6 GG ?
BVerfG: Gefahrenabwehrbereich kein eigenständiger Bereich außerhalb der Art. 73ff. GG; Ordnungsgewalt kann Sachbereichsannex sein; nur Regelungen, deren alleiniger Gesetzeszweck die Aufrechterhaltung öffentliche Sicherheit/ Ordnung ist, als Polizeirecht i. e. S. in Länderzuständigkeit
Luftverkehr ohne staatlich verbürgte Luftsicherheit unvorstellbar
Gefahren im Luftverkehr für Landeszuständigkeit nicht hinreichend lokalisierbar
- (+)
II. Verfassungsmäßigkeit des § 13 LuftSiG n. F., soweit er die Luftsicherheitsaufgaben in die bundeseigene Verwaltung überführt
Art. 30, Art. 83 GG à Anordnung bundeseigener Verwaltung nur bei Gestattung durch GG
1. Zugehörigkeit der "Luftsicherheitsaufgaben" zur "Luftverkehrsverwaltung" nach Art. 87d Abs. 1 Satz 1 GG
BVerfG: (+), soweit „Vorfeldkontrolle“ in Zusammenhang mit allgemeinen Aufgaben der Luftverkehrsverwaltung (Zugang zum Flugverkehr, Aufsicht über Luftfahrtgesellschaften)
Abwehr von Gefahren unabhängig von konkretem „Flughafenbezug“?
(+), keine wirkliche Lokalisierbarkeit der Gefahren àLuftsicherheit überörtliche Verwaltungsaufgabe
Art. 87d Abs. 1 Satz 1 GG (+)
2. Besonderheiten des "Zurückholens" einer zunächst nach Art. 87d Abs. 2 GG auf die Länder übertragenen Aufgabe
Art. 87d Abs. 2 GG kein Hindernis für Rückübertragung à trotz Wortlaut keine „Einbahnstraße“; Rückübertragungsakt muss lediglich Anforderungen des Art. 87d Abs. 2 GG erfüllen, hier (+)
3. Ergebnis zu II
Überführung der Luftsicherheitsaufgaben auf bundeseigene Verwaltung ist verfassungsgemäß
III. Verfassungsmäßigkeit des § 13 LuftSiG n. F., soweit er Luftsicherheitsaufgaben gerade auf die Bundespolizei überträgt
1. Luftsicherheitsaufgaben als Bundesgrenzschutzaufgaben?
(-), „Grenzschutz“ = Schutz der Grenzen des Bundesgebiets durch die Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs, einschließlich der hiermit verbundenen polizeilichen Funktionen
Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG keine Grundlage für Aufgaben ohne Grenzbezug
Argument: sonst kein Bedürfnis für zusätzliche, ausdrückliche Aufgabenzuweisung an Bundesgrenzschutz im GG (Art. 35 Abs. 2 und 3, Art. 91, Art. 115f. Abs. 1 GG)
- Wahrnehmung der Luftsicherheitsaufgaben nach § 1 LuftSiG keine Grenzschutzaufgaben i.S.d. Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG, keine Ermächtigung zur Übertragung an Bundespolizei aus Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG
2. Zulässigkeit der Übertragung grenzschutzfremder Aufgaben auf die Bundespolizei?
Übertragungsverbot aus Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG?
a) Bedeutung der systematischen Stellung des Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG
Verbotsherleitung aus Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG atypisch: Zweck der im VIII. Abschnitt des Grundgesetzes aufgeführten Gegenstände bundeseigener Verwaltung ist Regelung der Verbandskompetenz, nicht der Organkompetenz
- Übertragung bundesgrenzschutzfremder Aufgaben auf Bundespolizei verfassungsrechtlich unproblematisch
b) Generelles Verbot einer "Konzentration" der Polizeiaufgaben des Bundes auf die Bundespolizei?
Argumente:
Umkehrschluss aus ausdrücklicher Aufgabenzuweisungen an BGS-Behörden im GG (Art. 35 Abs. 2 und 3, Art. 91, Art. 115f Abs. 1. GG)
Formulierung des Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG: neben „Bundesgrenzschutzbehörden“ auch „Zentralstellen“ à Verfassungsgesetzgeber wollte Behördenmehrzahl im „Polizeibereich“ à keine Konzentration der Gefahrenabwehrbefugnisse bei „Zentralbehörde“
c) Verbot der Errichtung einer allgemeinen Bundespolizei?
BVerfG: Eingeschränkte Zulässigkeit der Zuweisung grenzschutzfremder Gefahrenabwehraufgaben an BGS-Behörden àeinfachgesetzliche Zuweisung grenzschutzfremder Aufgaben unzulässig, sofern Verlust des Gepräges als Sonderpolizei des Bundes zur Grenzsicherung und Abwehr bestimmter Gefahrenlagen, kein Ausbau zu allgemeiner Bundespolizei
Argument:
Einfügung Reaktion auf den sog. "Polizeibrief" der Alliierten vom 14. April 1949 à Gestattung der Errichtung eigener Polizeibehörden durch Bund begrenzt auf die sonderpolizeiliche Aufgabe des Bundesgrenzschutzes
Punktuelle Zuweisung grenzschutzfremder Aufgaben auf BGS-Behörden durch GG (Art. 35 Abs. 2 und 3, Art. 91 Abs. 2 und Art. 115f GG)
Hier: wohl kein Verlust des Gepräges als „Sonderpolizei“ durch Zuweisung aller Luftsicherheitsaufgaben, da länderüberschreitende Gefahr
d) Ergebnis zu 2.
Bessere Argumente sprechen gegen vollständiges Verbot der einfachgesetzlichen Übertragung grenzschutzfremder Aufgaben auf Bundespolizei
- Verstoß § 13 LuftSiG gegen von Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG vorausgesetztes "Wesen" der Bundespolizei als Bundesgrenzschutzbehörde (-)
IV. Vereinbarkeit der § 14, § 15 LuftSiG n. F. mit Art. 87a Abs. 2 GG
1. Einsatz nach § 14, § 15 LuftSiG n. F. als "Einsatz" i.S.d. Art. 87a Abs. 2 GG?
„Einsatzbegriff“ im einzelnen strittig
h.M.: "Einsatz" = (zumindest) Einsatz der Streitkräfte als Vollzugsorgane
Kritik: Begrenzung ergebnisorientiert
Stein: "Einsatz" i.S.d. Art. 87a Abs. 2 GG = jede funktionsgerechte Verwendung einer Einheit im Rahmen der militärischen Befehlsgewalt und nach militärischen Führungsgrundsätzen à jede Verwendung der Bundeswehr schlechthin, nur keine Maßnahmen des inneren Dienstbetriebes
Hier: Einsatz der Bundeswehr als Vollzugsorgan (Abdrängen von Flugzeugen, Zwang zur Landung, Bedrohung mit Waffengewalt und Abschuss, vgl. § 15 LuftSiG n. F.)
- nach allen Auffassungen „Einsätze“, Eingreifen des Verfassungsvorbehalt Art. 87a Abs. 2 GG
2. Abwehr von Terrorangriffen nach § 14, § 15 LuftSiG n. F. als "Verteidigung" i.S.d. Art. 87a Abs. 2 GG?
a) Gleichsetzung des Verteidigungsbegriffs mit dem Begriff des "Verteidigungsfalls" des Art. 115a GG
(-), Art. 115aff. GG regeln Notstandsverfassung àOrganisation der Staatsgewalt im Krieg, Ausrufung des "Kriegsrechts" nur bei Infragestellung der Funktion der normalen Staatsorganisation, kein unmittelbarer Bezug zur Frage des Einsatzes der Bundeswehr
b) "Verteidigung" als Abwehr jeglicher militärischer und paramilitärischer Eingriffe?
Art. 87a Abs. 2 GG: "Verteidigung" Abwehr solcher Angriffe, für die Einsatz militärischer Mittel notwendig à beim Gegner mit Staaten vergleichbare quasi-militärische Organisations- und Kommandostruktur sowie (zumindest zum Zeitpunkt des Angriffs) Zerstörungs- und Verheerungspotentiale notwendig („normale Polizeikräfte“ Angriffen nicht gewachsen) à auch Abwehr militärisch organisierter Inlandsangriffe erfasst?
Argumente:
Allgemeiner Sprachgebrauch: „Verteidigung“ = Abwehr eines Angriffs, keine Festlegung des Verteidigungsobjektes, der Modalität der Angriffshandlung, von Art/ Status des Verteidigers in Art. 87a Abs. 2 GG - "offener Verfassungsbegriff".
Art. 35 Abs. 2 und 3, Art. 87a Abs. 3 und 4 und Art. 91 Abs. 2 GG: keine Zuweisung allgemeiner Gefahrenabwehraufgaben an Bundeswehr; Abgrenzung von „Gefahrenabwehr“
Gegenargument:
Unvereinbarkeit mit besonderer Regelung des "inländischen Bürgerkriegs" in Art. 91 Abs. 2 i.V.m. Art. 87a Abs. 4 GG àUnterlaufen der besonderen Qualifizierungstatbestände
c) "Verteidigung" als Selbstverteidigung i.S.d. Art. 51 UN-Charta
zutreffend daher h.M.: „Verteidigung“ = militärischen Angriffsabwehrmaßnahmen, die in Ausübung des individuellen und kollektiven Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 UN-Charta erfolgen, die also der Abwehr von militärischen Angriffen fremder Staaten oder solcher (terroristischer) Verbände dienen, deren Verhalten fremden Staaten nach völkerrechtlichen Grundsätzen zugerechnet werden kann à Außenbezug des Angriffs, Zurechnung zu fremden Staat/ sonstigen Völkerrechtssubjekt
d) Vorliegen von "Verteidigung" im Fall der § 14, § 15 LuftSiG n. F.
Keine Unterscheidung zwischen kriminellen und kriegerischen „Luftzwischenfällen“ in §§ 14, 15 LuftSiG n.F. - vorgesehene Reaktion keine generelle „Verteidigung“ i.S.d. Art. 87a Abs. 2 GG
e) Ergebnis zu 2.
Einsätze in § 14, § 15 LuftSiG n. F. keine Einsätze "zur Verteidigung" i.S.d. Art. 87a Abs. 2 GG
3. Ausdrückliche Zulassung des Einsatzes nach § 14, § 15 LuftSiG n. F. im Grundgesetz
keine Ableitung ungeschriebener Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr im Innern aus Natur der Sache; Begrenzung der Bundeswehreinsatzmöglichkeiten (im Innern) durch Gebot "strikter Texttreue" à keine „flexible“ Grundgesetzauslegung oder Analogien
a) Art. 35 Abs. 1 GG
(-), „ausdrückliche Zulassung“ eines „Einsatzes“ gem. Art. 87a Abs. 2 GG erfordert Normierung eines bestimmten Handelns der Streifkräfte (vgl. Art. 35 Abs. 2 und 3, Art. 87a Abs. 3 und 4 GG)
b) Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG
aa) "Luftzwischenfall" i.S.d. § 14 Abs. 1 LuftSiG n. F. als "besonders schwerer Unglücksfall"?
„besonders schwerer Unglücksfall“ = Schadensereignis von großem Ausmaß und von Bedeutung für die Öffentlichkeit, das durch einen Unfall, technisches oder menschliches Versagen ausgelöst oder von Dritten absichtlich herbeigeführt wird; Gewicht nach mit „Naturkatastrophe“ vergleichbar
„Luftzwischenfall“ als solcher (-), zunächst nur Luftfahrzeuginsassen betroffen, keine Außenwirkung
(+), aber bei Luftfahrzeugeinsatz zur gemeingefährlichen Vernichtung von Menschenleben (gezielter Absturz in dicht besiedelten Gebieten/ gefährlichen Anlagen)
bb) Maßnahmen nach § 15 LuftSiG n. F. als Maßnahmen "zur Hilfe" bei einem "besonders schweren Unglücksfall"?
Es ist jedoch fraglich, ob die in § 15 LuftSiG n. F. vorgesehenen Maßnahmen der Bundeswehr als Maßnahmen "zur Hilfe" bei einem besonders schweren Unglücksfall angesehen werden können. Denn sie dienen zunächst der Abwehr des "Unglücksfalles" und nicht der Beseitigung seiner Folgen. Selbst wenn man die Abwehr eines Unglücksfalles generell noch als "Hilfe bei einem Unglücksfall" verstehen kann, stellt sich jedoch die Frage, ob Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG die Bundeswehr – wie dies Art. 87a Abs. 2 GG verlangt – "ausdrücklich" auch zu den in § 15 LuftSiG n. F. genannten Maßnahmen ermächtigen.
(1) Abwehr eines Unglücksfalls als Hilfe bei einem Unglücksfall?
Maßnahmen „zur Hilfe“ = grds. nur Maßnahmen zur Unglücksfolgenbeseitigung à auch Abwehrmaßnahmen erfasst?
Gegenargument: Systemwidrigkeit à grds. keine allgemeine Gefahrenabwehrbefugnisse der Bundeswehr im GG
Argumente: Unmöglichkeit der klaren Trennung von Unglücksgefahr und Unglückseintritt, Abwehr eines Unglücksfalls, dessen Ursache bereits „ausgelöst“ ist oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bevorsteht noch vom Wortlaut der Norm gedeckt
- Präventive Heranziehung der Bundeswehr in Situation des § 14 Abs. 1 LuftSiG (+)
(2) Maßnahmen nach § 15 LuftSiG n. F. als von Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG "ausdrücklich zugelassene" Maßnahmen bei einem Unglücksfall?
(-), deutliche Unterscheidung zwischen Bundeswehrkampfeinsatz zur Abwehr militärisch organisierter Angreifer (Art. 84a Abs. 4 i.V.m. Art. 91 Abs. 2 GG) und unpolitischem/ nichtmilitärischen Bundeswehreinsatz im Unglücks-/ Katastrophenfall; § 15 LuftSiG n.F-Befugnisse der Sache nach „Kampfeinsatz“-Befugnisse à angesichts Gebots „strikter Texttreue“ nicht von Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG gedeckt (a.A. vertretbar)
cc) Anwendbarkeit der Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG bei regulärer Gefahrenabwehrzuständigkeit des Bundes?
Deckung der Befugnisse nach §§ 14, 15 LuftSiG n. F. durch genannte GG-Normen auch bei Annahme der Zulässigkeit von Bundeswehrkampfeinsätzen zur Verhinderung von Unglücksfällen zweifelhaft
Nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG ist Bekämpfung der Katastrophen-/ Unglücksfallgefahren an sich Länderangelegenheit, in deren Wahrnehmung punktuell Bundesbehörden einbezogen werden - Luftsicherung bereits Bundesaufgabe (§13 LuftSiG n.F.), nach Gesetzessystematik §§ 14, 15 LuftSiG n. F. Ermächtigung zur Wahrnehmung von Luftsicherheitsaufgaben, keine Konkretisierung der Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und 3 GG - keine „ausdrückliche Zulassung“ des Bundeswehreinsatzes i.S.d. 87a Abs. 2 GG
dd) Ergebnis zu b
Keine „ausdrückliche Zulassung“ der Bundeswehreinsätze gem. §§ 14, 15 LuftSiG durch Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG
c) Art. 87a Abs. 4 i.V.m. Art. 91 Abs. 2 GG
Voraussetzungen zumeist (-), Infragestellung des Bestand des Bundes oder eines Landes durch Anschlag im Einzelfall zwar möglich (Absturz in Atomkraftwerk und Verstrahlung des Bundesgebietes), aber selbst Anschläge des 11. September 2001 keine solchen Folgen; im Regelfall keine Bedrohung der Schutzgüter der o.g. GG-Normen durch Tötung/ Verletzung Tausender; nicht jeder Terrorist/ Attentäter gleich „Aufständischer“, da Ziel nicht immer Übernahme der Regierungsgewalt
- keine „ausdrückliche Zulassung“ der Bundeswehreinsätze gem. §§ 14, 15 LuftSiG n. F. durch Art. 87a Abs. 4 i.V.m. Art. 91 Abs. 2 GG
d) Art. 87a Abs. 3 i.V.m. Art. 80a GG
(-), Verteidigungsfall (Art. 115a Abs. 1 GG) bzw. Spannungsfall (Art. 80a GG) nur bei (förmlicher) Feststellung durch gesetzgebende Körperschaften, hier Einsatz nicht von Feststellung abhängig
e) Ergebnis zu 3
keine „ausdrückliche“ Zulassung i.S.d. Art. 87a Abs. 2 GG der Bundeswehreinsätze in § 14 und § 15 LuftSiG n. F. durch GG
4. Ergebnis zu IV
Verstoß der Ermächtigungen in §§ 14, 15 LuftSiG n.F. gegen Art. 87a Abs. 2 GG à Verfassungswidrigkeit (+)
V. Vereinbarkeit des § 15 Abs. 2 LuftSiG n. F. mit den Grundrechten der von dem Abschussbefehl Betroffenen
1. Konkretisierung des Regelungsinhalts des § 15 Abs. 2 LuftSiG n. F.
§ 15 Abs. 2 LuftSiG n. F.: Befugnis zur Beschädigung oder Zerstörung eines Flugzeugs, auch wenn hierdurch Menschen getötet werden à
Satz 1: keine Tötung/ Verletzung von "Unbeteiligten" à jeder, der für mit Waffeneinsatz bekämpfte Gefahr nach polizeirechtlichen Grundsätzen nicht verantwortlich (vgl. § 16 Abs. 2 Satz 2 UZwGBw und GefAbwGesetze der Länder) à Abschussermächtigung nur bei ausschließlicher Tötung/Gefährdung der „Luftzwischenfall“-Verursacher
Satz 2: Ermächtigung nur zur Gefährdung/Tötung "Unbeteiligter", die ohnehin „todgeweiht“, nicht anderen „Unbeteiligten“ (keine Ermächtigung zum Flugzeugabschuss über Wohngebiet zur Verhinderung der Kollision mit "vollbesetztem" Hochhaus, wenn Lebensgefahr für Bewohner durch herabstürzende Flugzeugteile)
- Verfassungsmäßigkeitsprüfung nur hinsichtlich Zulässigkeit der Verursachertötung und Hinnahme des Todes der "todgeweihten" Unbeteiligten (Passagierflugzeug als "bemannte Bombe")
2. Tötung der Täter (§ 15 Abs. 2 Satz 1 LuftSiG n. F.)
Gezielte Tätertötung (§ 15 Abs. 2 Satz 1 LuftSiG n. F.) = Eingriff in Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), Selbstmordabsicht des Täters unbeachtlich, Ende des Rechts auf Leben erst mit Tod nicht bereits beim „Dem-Tod-Geweiht-Sein“
a) Verletzung des Art. 102 GG durch staatliche Tötung?
(-), "Strafe" i. S. d. GG = "missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein schuldhaftes Verhalten", Abgrenzung von präventiven Gefahrenabwehrmaßnahmen à gezielte Tötungshandlungen in Zusammenhang mit Gefahrenabwehr nicht im Anwendungsbereich des Art. 102 GG, hier Tötungshandlung nicht zur Bestrafung der Täter, sondern Verhinderung Tötung Dritter
b) Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG durch staatliche Tötung?
(-), Angreifer keine bloße "Verfügungsmasse", keine Aufopferung seines Lebens zum Schutz des Lebens anderer, Tötung des Angreifers vielmehr Reaktion auf dessen selbstbestimmtes Verhalten, kein Objekt, sondern "Gegenspieler" der staatlichen Gewalt, Beherrschung und Beinflussung des weiteren Geschehensverlaufs à keine Infragestellung der Subjektqualität des Angreifers durch Tötung, vielmehr Reaktion auf seine Subjekthaftigkeit
c) Anwendbarkeit des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG unter Berücksichtigung des Art. 19 Abs. 2 GG?
h.M.: Bezug der „Wesensgehaltsgarantie“ hinsichtlich Lebensrecht nicht auf einzelnen Grundrechtsträger, sondern Allgemeinheit à „Antasten des Wesensgehalts“ nur bei allgemeiner Zulässigkeit (gezielter) Tötungen
Argument: keine absolute Lebensschutzgarantie in sonstigen Fällen (vgl. z.B. Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG)
d) Verhältnismäßigkeit des § 15 Abs. 2 Satz 1 LuftSiG n. F.
(+), Tötung nach § 15 Abs. 2 Satz 1 LuftSiG n. F. Schutz des Lebens Unbeteiligter, nur „ultima ratio“, Staat trotz Verbotes der Aufrechnung „Leben gegen Leben“ Parteinahme für Bedrohte gestattet
e) Bedeutung der Gefahr von Fehlprognosen
(P) Verfassungswidrigkeit wegen Erteilung des Abschussbefehls auf unsicherer Tatsachengrundlage?
(-) Risiko von Fehlprognosen Gefahrenabwehrrecht generell immanent, Verfassungswidrigkeit erst bei Verstoß gegen Bestimmtheitsgebot, hier (-), Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe zulässig, Schwierigkeit der Regelungsmaterie, Verwendung klassischer Polizeirechtsbegriffe àrestriktive Auslegung des § 15 Abs. 2 Satz 1 LuftSiG n. F.
f) Ergebnis zu 2
Ermächtigung zur Verursachertötung in § 15 Abs. 2 Satz 1 LuftSiG n. F. mit GG vereinbar
3. Tötung Unbeteiligter (§ 15 Abs. 2 Satz 2 LuftSiG n.F.)
a) Verletzung der Menschenwürde der Unbeteiligten durch "Lebensquantifizierung"
e.A.: (+), „Umlenkung“ der Todesgefahr für größere Anzahl Menschen auf kleiner Anzahl Menschen, die von Gefahr zuvor nicht betroffen àquantifizierende Leben-gegen-Leben-Abwägung
a.A.: (-), Gefährdung/Opferung der Menschenleben von Soldaten und Zivilisten im Krieg, Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnlichen Situationen nicht nur zum Schutz des Lebens anderer, sondern auch zum Schutz wesentlich "abstrakterer" Ziele (Wiederherstellung der territorialen Integrität der Bundesrepublik/ Aufrechterhaltung der freiheitlich demokratischen Grundordnung), keine Unterscheidung zwischen Krieg/ Nicht-Krieg bei Menschenwürdereichweite (vgl. Art. 1 Abs. 1 GG)
- hier kein "Gefahrumlenken" durch § 15 Abs. 2 Satz 2 LuftSiG n. F., Tötungsverbot in dieser Situation verkehrt in nur auf Prinzip fokussierter Sichtweise, mit Abwägungsverbot bezweckten Menschenwürde- und Lebensschutz; Befreiung der „Todgeweihten“ aus „Objektstellung“ als Teil einer Tötungsmaschine durch Vereitelung des Anschlagerfolges - auf diese Weise noch gewisser Sinn in ihrem unvermeidlichen Tod
b) Bedeutung der Gefahr von Fehlprognosen
Durch Möglichkeit der Erteilung eines „Rahmenbefehls“ in § 15 Abs. 4 LuftSiG n. F. Rechnung getragen; keine Verfassungswidrigkeit allein aufgrund Möglichkeit der fehlerhaften Anwendung einer Rechtsnorm
c) Ergebnis zu 3
Bessere Argumente sprechen gegen einen Menschenwürdeverstoß durch § 15 Abs. 2 LuftSiG; gleiche Gründe sprechen auch für Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG der Unbeteiligten
VI. Ergebnis zu B
Verstoß § 14 und § 15 LuftSiG i.d.F. des 1. LuftSiGÄndG gegen Art. 87a Abs. 2 GG (+), im Übrigen verfassungsgemäß
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