Strickliesel (Sachverhalt)
Nach § 41, § 42 Abs. 3 Schulgesetz endet die allgemeine Schulpflicht für in Berlin lebende Kinder, Jugendliche und Heranwachsende mit dem Besuch der Klassenstufe 10. Nach erfolgreichem Besuch der Grundschule kann nach § 41 Abs. III Schulgesetz die Schulpflicht auch durch den Besuch eines Gymnasiums erfüllt werden. Nach § 46 II SchulG ist jeder Schüler u.a. verpflichtet, am verbindlichen Unterricht regelmäßig teilzunehmen. Hierfür haben nach § 44 Schulgesetz u.a. auch die Eltern zu sorgen. Andernfalls können Schulpflichtige nach § 45 Schulgesetz der Schule zwangsweise zugeführt werden, und es besteht die Möglichkeit von Ordnungsmaßnahmen nach § 63 Schulgesetz. Nach § 126 Abs. 1 Nr.1 Schulgesetz können schließlich Verstöße gegen die Schulpflicht als Ordnungswidrigkeiten geahndet werden. § 14 Abs. 5 SchulG ermächtigt die für das Schulwesen zuständige Senatsverwaltung, durch Rechtsverordnung Stundentafeln zu erlassen. Nach § 14 Abs. 2 Nr. 1 SchG umfasst dies auch die Festlegung der Fächer und Stunden, welche die Schüler in den einzelnen Jahrgangsstufen als Pflichtfächer zu besuchen haben. Bei Erlass dieser Regelungen hat der Verordnungsgeber die allgemeinen Erziehungsziele der §§ 1 und 3 Schulgesetz zu beachten. Er hat darüber hinaus die besonderen Erziehungsziele der jeweiligen Schulform zu beachten (vgl. §§ 20ff. Schulgesetz).
Durch die 2. Verordnung zur Änderung der Stundentafeln der Klassenstufen 5 bis 10 (2. StundentafeländerungsVO) wird auch die Stundentafel für Gymnasien dahingehend geändert, dass in den Klassen 5 bis 10 Mädchen zusätzlich zu den übrigen Pflichtstunden, welche auch die Jungen zu besuchen haben, wöchentlich 2 Stunden im Fach Handarbeit (Stricken, Häkeln, Sticken, Nähen) zu unterrichten sind. Für Jungen wird der Besuch des Faches Handarbeit ausdrücklich ausgeschlossen. Mädchen haben deshalb gegenüber Jungen ab In-Kraft-Treten der Neuregelung in den Klassen 5 bis 10 jeweils 2 Wochenstunden mehr abzuleisten. Entsprechende Regelungen werden auch für die Haupt- und Realschulen sowie die Gesamtschulen erlassen. Begründet wird die Neueinführung des Fachs Handarbeit damit, dass sie einem gewissen Bedürfnis entspräche und auf Anregungen von Seiten der Elternschaft zurückzuführen sei. Das Erlernen von Handarbeitstechniken diene – ähnlich wie die klassischen musischen Fächer Musik und Kunst – der Entfaltung der Kreativität und auch der manuellen Geschicklichkeit und erleichtere darüber hinaus die Erfüllung der späteren Aufgaben in der Familie: Handarbeiten seien hier immer wieder nützlich und eröffneten gerade in jungen Haushalten zahlreiche Einsparungsmöglichkeiten. Der Ausschluss von Jungen wird damit begründet, dass Jungen an Handarbeit regelmäßig keinen Spaß hätten, sie "unmännlich" fänden und deshalb den Unterricht und damit auch die Mädchen, die an Handarbeiten erfahrungsgemäß eher Interesse hätten, nur stören würden. Außerdem hätte das Land wegen der angespannten Haushaltslage ohnehin nicht die Mittel, Handarbeitsunterricht sowohl für Jungen wie für Mädchen anzubieten.
Wegen der Neuregelung wird auch im Berliner Jochen-Löwe Gymnasium das Pflichtfach Handarbeiten eingeführt. Aus organisatorischen Gründen werden die hierauf fallenden Stunden regelmäßig auf den Nachmittag gelegt, also auf einen Zeitpunkt, in denen Jungen schon Hausaufgaben machen, fernsehen, sich prügeln, Sport treiben und ähnlichen sinnvollen Beschäftigungen nachgehen können. Deshalb fühlt sich die 12-jährige Sarah Levenbrück die Schülerin am Jochen-Löwe Gymnasium ist, ungerecht behandelt: Mittwochs, wenn Handarbeitstag ist, möchte sie lieber zum Querflötenunterricht in die Friedrichstädische Musikschule gehen. Auch sieht sie nicht ein, warum sie in einem Gymnasium – in dem sie schließlich nach § 26 Abs. 1 Schulgesetz auf ein Studium an einer Universität vorbereitet werden soll – lernen solle, wie man sich manuell betätigt.
Die Eltern von Sarah beantragen deshalb auf Wunsch ihrer Tochter auch in deren Namen bei Oberstudiendirektorin Odessa Hubbard-Siontologis, der Schulleiterin des Jochen-Löwe Gymnasiums, die Befreiung ihrer Tochter vom Handarbeitsunterricht. Dieser Antrag wird jedoch von Hubbard-Siontologis unter Hinweis auf § 46 Abs. 5 Schulgesetz abgelehnt – obwohl sie aus Erfahrung weiß, dass sich die Zinnens damit nicht zufrieden geben werden.
Wie nicht anders erwartet, erhebt Sarah tatsächlich – vertreten durch ihre Eltern – form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde gegen die 2. StundentafeländerungsVO. Sie sieht sich durch die Verordnung in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 GG verletzt.
Ungerecht behandelt fühlt sich aber auch der 12-jährige Ole Mikaelsen, der ebenfalls Schüler des Jochen-Löwe Gymnasiums ist. Er sieht nicht ein, warum nur die Mädchen lernen dürfen, wie man strickt und häkelt. Rollgardina Mikaelsen – die alleinerziehende und allein sorgeberechtigte Mutter Oles – beantragt deshalb auf Wunsch Oles auch in dessen Namen bei Hubbard-Siontologis, Ole die Teilnahme am Handarbeitsunterricht zu gestatten. Auch diesen Antrag lehnt Hubbard-Siontologis unter Hinweis darauf ab, dass § 46 Schulgesetz nicht ermögliche, einen Schüler auf Wunsch an Unterrichtsangeboten teilnehmen zu lassen, die für ihn weder als Pflichtfach noch als freiwillige Unterrichtsveranstaltung vorgesehen sind.
Ole klagt deshalb nach erfolglosem Widerspruch, vertreten durch seine Mutter, vor dem Verwaltungsgericht Berlin auf Zulassung zum Handarbeitsunterricht. Diese Klage wird jedoch vom Verwaltungsgericht als unbegründet zurückgewiesen, die Berufung hiergegen vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg nicht zugelassen. Ole erhebt deshalb, vertreten durch seine Mutter, eine Woche nach Zustellung des Nichtzulassungsbeschlusses formgerecht Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtes. Er sieht sich durch die Versagung der Zulassung zum Handarbeitsunterricht ebenfalls in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 GG verletzt.
Prüfen Sie gutachtlich die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerden von Sarah und Ole.
Dokumente
Zur zuletzt besuchten Textpassage | Zum Seitenanfang