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Schwimmunterricht Kurzlösung

A. Zulässigkeit

I. Zuständigkeit

Art. 93 I Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG (+)

 

II. Beschwerdefähigkeit

Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG (+)

 

III. Prozessfähigkeit

(P) Grundrechtsmündigkeit

  • Grds. Einsichtsfähigkeit
  • Richtwert für Religionsfreiheit:
    • Gesetz über die religiöse Kindererziehung (RelKErzG) von 1921: 14 Jahre

 

IV. Beschwerdegegenstand

  • Akt öffentlicher Gewalt nach Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG: Urteile (+)

 

V. Beschwerdebefugnis

  • Möglichkeit einer Verletzung von Art. 4 I, II GG erscheint nicht ausgeschlossen
  • G ist auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen

--> G ist beschwerdebefugt nach Art. 93 I Nr. 4a, § 90 I BVerfGG

Aber: (-) für Urteile des VG und des OVG

 

VI. Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität, § 90 II BVerfGG

 

VII. Form, Begründung und Frist, §§ 23 I, 92, 93 I BVerfGG (+)

 

VIII. Ergebnis zu A. (+)

 

B. Begründetheit

= wenn in GR oder GRgleichen Rechten verletzt.

  • BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz à prüft nur Verletzung spezifischen Verfassungsrechts (bei jeder Urteils-VB!)

 

I. Art. 4 I, II GG

1. Schutzbereich

a) Sachlicher Schutzbereich

Religion = Überzeugungssystem bzgl. der Stellung des Menschen in der Welt mit transzendentalen Bezug zu einer höheren Macht.

  • einheitliches Grundrecht der Religionsfreiheit:
    • Freiheit, Glauben zu haben oder nicht (forum internum)
    • Glauben zu bekunden und auszuüben (forum externum)

(Ohne transzendentalen Bezug: Weltanschauung i.S.v. Art. 4 I GG.)

 

(P) Wer entscheidet,
was Religion ist und welche Handlungen sie gebietet?

  • Eigentlich nicht Sache des Staates dies zu definieren
  • Auch nicht allein Sache großer Religionsgemeinschaften
    • Minderheiten und subj. Glaubensüberzeugungen schutzwürdig
    • aber: Plausibilitätskontrolle, da Grundrecht sonst konturenlos
    • GR-Träger muss begründen, warum Handlung religiös motiviert ist

              (Religiöse Verbindlichkeit der Handlung erst im Rahmen der Abwägung)

 

Hier:

  • Islam = Religion (unproblematisch)
  • Geltend gemachte Bekleidungsvorschriften hinreichend plausibel

 

b) Personeller Schutzbereich

(P) Besonderes Gewaltverhältnis

  • Besondere Nähe zum Staat schließt Grundrechtsschutz aus?
  • Nein:
    umfassende Bindung d. Staatsgewalt an Grundrechte, Art. 1 III GG
    • erst recht gegenüber Personen, die Zugriff staatlicher Macht besonders leicht ausgeliefert sind: Strafgefangene, Schüler, etc.
    • Besonderheiten des Verhältnisses ggf. in Rechtfertigung

 

2. Eingriff

  • Schulpflicht i.V.m. Verweigerung einer Befreiung verpflichtet G, ihren religiösen Vorstellungen wiedersprechend zu handeln
  • und zwar final, unmittelbar, rechtlich und mit Zwang, vgl. § 45 Schulgesetz Bln

 

3. Rechtfertigung

a) Beschränkungsmöglichkeit

  • Art. 4 I, II GG enthalten keinen Gesetzesvorbehalt
  • Gesetzesvorbehalt aus Art. 136 Abs. 1 WRV i.V.m. Art. 140 GG?
    • zu staatsbürgerlichen Pflichten gehört es, Gesetze zu befolgen

Aber:

  • Art.140 GG übernimmt Art. 135 S. 3 WRV, der Religionsfreiheit garantierte und Gesetzesvorbehalt enthielt, gerade nicht (historische Auslegung)
  • Art. 135 S. 3 WRV bezieht sich nur auf Religion, nicht auf Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit, nicht ersichtlich, weshalb diese stärker geschützt sein sollten (systematisch-teleologische Auslegung)
  • Übernahme von Bestimmungen der WRV durch Art. 140 GG regelt Staatskirchenrecht – keinen „versteckten“ Vorbehalt (alle sonstigen Gesetzesvorbehalte stehen systematisch direkt beim jeweiligen Grundrecht)
  • Kein Gesetzesvorbehalt in Art. 136 I WRV i.V.m. Art. 140 GG

(BVerfG und h.L.; a.A. vertretbar)

 

  • Art. 4 I, II GG daher vorbehaltslos gewährleistet
    • beschränkbar nur bei Kollision mit Verfassungsgütern (verfassungsimmanente Schranken)

Hier: Staatlicher Bildungs- und Erziehungsauftrag, Art. 7 I GG

 

b) Eingriffsgrundlage

  • Schulpflicht und Verweigerung der Befreiung stützten sich auf
    §§ 41, 45f. Schulgesetz Bln
    • Formell verfassungskonform
      • Schulrecht nach Art. 70 I GG Ländersache
      • Zitiergebot (Art. 19 I 2 GG) nicht bei verfassungsimmanenten Schranken
      • Sonst keine Anhaltspunkte im SV
    • Materiell verfassungskonform, insb. verhältnismäßig, da über unbestimmte Begriffe verfassungskonform auslegbar

 

c) Anwendung im Einzelfall

Anwendung müsste verhältnismäßig sein:

  • legitimes Ziel
    • Bildungs- und Erziehungsauftrag, Art. 7 I GG
      • Schwimmen als Sport und Überlebenstechnik
      • Toleranz, Gleichberechtigung und Offenheit
  • Geeignetheit
    • jedenfalls förderlich
  • Erforderlichkeit
    • Getrennter/privater Schwimmunterricht als milderes Mittel?
      • Nicht gleich geeignet mit Blick auf Ziele
  • Angemessenheit?

 

Schwere des Eingriffs

  • Möglichkeit, Burkini zu tragen, reduziert Belastung
    • Einwand, dass Körperkonturen sichtbar: eher geringfügig
      • vgl. sonstige Sportbekleidung / Kleidung
  • Intolerante soziale Äußerungen von Mitschülern?
    • Nicht sicher, aber nicht ausgeschlossen
      • Anblick anderer (männlicher) Kinder in Badehose
      • Berührungen mit anderen Kindern möglich

--> Belastung der Religionsfreit vorhanden, aber nicht so hoch

 

Bedeutung des gegenläufigen Interesses

  • Gesundheit, Sport, Überlebenstechnik
  • Selbstbestimmtes Leben in pluralistischer Gesellschaft hochrangiges Ziel
  • Integrationsfunktion der Schule (≠ migrationspolitischer Begriff)
    • Bürger sollen sich trotz aller Differenz als Teil einer politischen Gemeinschaft verstehen
    • Gemeinsamer Schulbesuch Mittel hierzu

--> Schwimmunterricht auch von Bedeutung für Zusammenleben in pluralistischer Gesellschaft, Lernen des Umgangs mit Differenz

 

Gesamtabwägung

Möglichst „praktische Konkordanz“ schaffen, d.h. „schonender Ausgleich“ zw. widerstreitenden Verfassungsgütern, der allen zu möglichst weitgehender Entfaltung verhilft

Staat kann Unterricht in pluralistischer Gesellschaft nicht an kleinstem gemeinsamen Nenner aller Beteiligten ausrichten, aber:

--> wenn Glaubensposition des Einzelnen stark beeinträchtigt und kein sinnvoller Ausgleich möglich, Befreiung ggf. notwendig

--> Einzelne/r kann angemessene Berücksichtigung der Individualinteressen verlangen, darf sich aber auch nicht Entgegenkommen verschließen

 

Hier:

Burkini

  • Verringert Maß der Abweichung von religiösen Bekleidungsvorschriften erheblich
  • verbleibende Beeinträchtigung wie im Alltag / im sonstigem Sportunterricht à geringfügig

Intolerante Äußerungen

  • Teil der Sozialisation
  • Lehrer/innen müssen entgegentreten
    (Schutzpflicht des Staates)

Andere (männliche) Kinder in Badehose

  • üblicher Teil sozialer Realität
  • in pluralistischer Gesellschaft kann es grds. keinen Schutz vor Konfrontation mit dem Grundrechtsgebrauch anderer geben

Berührungen

  • lassen sich in hinnehmbaren Maß vermeiden durch
    • Organisation des Unterrichts
    • Eigenes Verhalten der G
    • jedenfalls in gleichem Maße wie bei sonstigem Sportunterricht

 

--> Teilnahme beeinträchtigt Religionsfreiheit insofern eher leicht und ist zumutbar.

= Verweigerung der Befreieung war angemessen.


(So: BVerwG, BVerfG, EGMR; a.A. vertretbar, s. frühere Rspr. BVerwG)

 

II. Art. 2 Abs. 1 GG

Allgemeine Handlungsfreiheit tritt subsidiär zurück.

 

C. Gesamtergebnis

VB teils zulässig, aber unbegründet.

 


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© Heike Krieger und Markus Heintzen (Freie Universität Berlin)