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Schwimmunterricht Lösungsvorschlag


Originalentscheidungen: BVerwGE 147, 362-379; BVerfG, Beschluss vom 8. November 2016, 1 BvR 3237/13; EGMR, Osmanoğlu und Kocabaş gegen die Schweiz, Urteil vom 10. Januar 2017, Nr. 29086/12.

Ähnlicher Übungsfall: Epping, Grundrechte, Fall 10 (Krabat).

Lehrbuch über Rechtsprobleme der Religionsfreiheit in pluralistischer Gesellschaft, z. B.: Hufen, Grundrechte, § 22 Rn. 43ff.

Ergänzend bei Interesse: Baade, Der Burkini als Technological Fix, Verfassungsblog vom 12. Januar 2017, https://verfassungsblog.de/der-burkini-als-technological-fix/; Sandhu, Vier Gegenthesen zum Kopftuchurteil des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, Verfassungsblog vom 20. März 2019, verfügbar unter: https://verfassungsblog.de/vier-gegenthesen-zum-kopftuchurteil-des-bayerischen-verfassungsgerichtshofs/; Baade, Die Identität der Mehrheit und die Grenzen ihres Schutzes, Archiv des öffentlichen Rechts 2017, 566 (594ff.).

A. Zulässigkeit

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, soweit sie die Voraussetzungen des Art. 93 I Nr. 4 a GG und der §§ 90 ff. BVerfGG erfüllt.

I. Zuständigkeit des BVerfG

Das Bundesverfassungsgericht ist für Verfassungsbeschwerden gem. Art. 93 I Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG zuständig.

II. Beschwerdefähigkeit

M ist als natürliche Person „jedermann“ i.S.v. Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG und daher beschwerdefähig.

III. Prozessfähigkeit

M müsste auch verfahrensfähig sein, also selbst Verfahrenshandlungen vornehmen können. Ob sie dies mit 14 Jahren kann, ist fraglich. Maßgeblich ist hierbei allgemeiner Ansicht nach die Grundrechtsmündigkeit, die sich nach der Einsichtsfähigkeit der Person in die gegenständlichen grundrechtlichen Zusammenhänge bemisst.[1] Für die Religionsfreiheit lässt sich aus dem einfachen Recht ein Indiz ableiten. Das (nach wie vor gültige) Gesetz über die religiöse Kindererziehung (RelKErzG) aus dem Jahr 1921 sieht vor, dass Kinder bzw. Jugendliche mit 14 Jahren vollständig selbst über ihr Bekenntnis entscheiden können. Der Gesetzgeber geht also davon aus, dass Personen in diesem Alter generell hinreichend einsichtsfähig hinsichtlich der Religionsfreiheit sind. Im vorliegenden Fall spricht nichts dafür, dass diese Vermutung bei M nicht erfüllt wäre. Vielmehr setzt sie sich ersichtlich mit ihrem Glauben auseinander. Sie ist daher grundrechtsmündig und somit verfahrensfähig.

IV. Beschwerdegegenstand

Die Urteile der Verwaltungsgerichte, gegen die M sich wendet, sind als Entscheidungen der Judikative Akte der öffentlichen Gewalt i.S.v. Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG und damit tauglicher Beschwerdegegenstand einer Verfassungsbeschwerde.

 

V. Beschwerdebefugnis

M müsste auch beschwerdebefugt sein, also hinreichend substantiiert behaupten, selbst, gegenwärtig und unmittelbar in einem Grundrecht oder grundrechtsgleichen Recht verletzt zu sein, Art. 93 I Nr. 4a, § 90 I BVerfGG.

Zunächst müsste die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung bestehen. Eine solche dürfte nicht von vornherein, nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen sein. Eine Verletzung der Religionsfreiheit der M aus Art. 4 I, II GG scheint grundsätzlich nicht ausgeschlossen; die Verpflichtung am Schwimmunterricht teilzunehmen könnte insbesondere eine unverhältnismäßige Beschränkung darstellen. Ausgeschlossen ist hingegen, dass das erstinstanzliche Urteil des Verwaltungsgerichts und das Berufungsurteil des Oberverwaltungsgerichts M in ihrer Religionsfreiheit verletzen. Diese Urteile haben M vollumfänglich Recht gegeben. Durch ein Urteil, dass allen Anträgen der Klägerin entspricht, kann diese aber nicht in ihren Rechten verletzt sein. Insofern besteht keine Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung.

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts betrifft M auch selbst, unmittelbar und gegenwärtig.

Die Adressatin eines Urteils wird stets selbst, gegenwärtig und unmittelbar durch dieses betroffen sein. Insofern liegt hier bei Urteilsverfassungsbeschwerden in aller Regel kein Problem. Dennoch muss der Punkt kurz festgestellt werden.

M ist somit hinsichtlich des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts beschwerdebefugt.

 

VI. Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität

Mit der Revision zum Bundesverwaltungsgericht hat M den Rechtsweg erschöpft, § 90 II BVerfGG. Auch die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde steht deren Zulässigkeit nicht entgegen, da keine anderen Mittel ersichtlich sind, wie M ihrer Beschwer effektiv abhelfen könnte.

VII. Form, Begründung und Frist

Mangels weiter Angaben im Sachverhalt ist davon auszugehen, dass M die Beschwerde schriftlich, begründet und innerhalb der Monatsfrist eingereicht hat, §§ 23 I, 92, 93 BVerfGG.

VIII. Ergebnis zu A.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

 

B. Begründetheit

Die Verfassungsbeschwerde der M ist begründet, soweit sie in einem ihrer Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist.

I. Religionsfreiheit

1. Schutzbereich

a) Sachlich

Zunächst müsste der Schutzbereich der Religionsfreiheit in sachlicher Hinsicht eröffnet sein. Der Islam ist ein Überzeugungssystem, das die Stellung des Menschen in der Welt betrifft und einen transzendentalen Bezug zu einer höheren Macht aufweist, und damit Religion i.S.v. Art. 4 I, II GG. M kann sich somit der Sache nach auf dieses Grundrecht berufen, das es einerseits schützt, einen Glauben zu haben oder nicht zu haben (forum internum), aber auch, seinen Glauben zu bekunden und auszuüben (forum externum).

Zur Freiheit, seinen Glauben auszuüben, gehört es auch, sein Leben nach diesem Glauben auszurichten und entsprechend zu handeln. Fraglich ist jedoch, welche Handlungen von der Religionsfreiheit in diesem Sinne erfasst werden. Problematisch ist insofern, dass es eigentlich nicht Sache des Staates ist, für Gläubige zu definieren, welche Handlungen ihre Religion, in welcher Form vorschreibt. Der Staat kann sich auch nicht allgemein auf Autoritäten innerhalb von Religionsgemeinschaften berufen. Die Religionsfreiheit ist ein Individualgrundrecht. Auch Minderheiten und subjektive Glaubensüberzeugungen von Einzelnen sind schützenswert. Die Definition kann andererseits aber auch nicht völlig ins Belieben der Grundrechtsträger gestellt werden. Denn dann würde das Grundrecht konturlos und es bestünde die Gefahr, einer missbräuchlichen Berufung auf dieses Grundrecht, um seinen Schutz zu erlangen.

Daher ist eine Plausibilitätskontrolle durchzuführen. Der Grundrechtsträger muss ggf. begründen, weshalb eine Handlung religiös motiviert ist. Ob diese Handlung in der Religion „verbindlich“ oder lediglich als „wünschenswert“ anzusehen ist, ist für den Schutzbereich unerheblich und erst im Rahmen der Rechtfertigung eines Eingriffs relevant. M trägt vor, dass sie Bekleidungsvorschriften in der Öffentlichkeit für sich als religiös verbindlich ansieht. Es ist allgemein bekannt, dass viele Muslime gewisse Bedeckungsvorschriften für verbindlich erachten. Dass es auch hiervon abweichende Auffassungen innerhalb der Religionsgemeinschaft gibt, ist für den grundrechtlichen Schutz unbeachtlich. Die von M geltend gemachten Bekleidungsvorschriften sind jedenfalls hinreichend plausibel religiös motiviert. Der sachliche Schutzbereich ist insofern eröffnet.

b) Personell

M kann sich als natürliche Person auf die Religionsfreiheit berufen, die ein Menschenrecht ist. Hiergegen spricht auch nicht, dass sie sich als Schülerin in der Sphäre des Staates befindet. Die früher vertretene Lehre vom „besonderen Gewaltverhältnis“ ist mit den Anforderungen des Grundgesetzes unvereinbar. Art. 1 III GG bindet die Staatsgewalt ausnahmslos an die Grundrechte. Dies gilt umso mehr als Personen sich nicht freiwillig in dieses Näheverhältnis begeben haben, wie Schüler, aber z.B. auch Gefangene. Diese können vielmehr gerade aufgrund der Nähe zum Staat besonders schutzbedürftig sein. Besonderheiten, die sich daraus ergeben können, dass sich jemand in einem bestimmten Näheverhältnis zum Staat befindet, kann im Rahmen der Rechtfertigung von Eingriffen Rechnung getragen werden.

2. Eingriff

Die Verweigerung einer Befreiung von der Schulpflicht für den Schwimmunterricht verpflichtet die M dazu, ihren religiösen Vorstellungen wiedersprechend zu handeln, und zwar final, unmittelbar, rechtlich und mit Zwang (vgl. § 45 Schulgesetz Bln). Es liegt daher ein klassischer Eingriff vor.

3. Rechtfertigung

a) Beschränkungsmöglichkeit

Art. 4 I, II GG enthalten keinen Gesetzesvorbehalt. Fraglich ist aber, ob ein Gesetzesvorbehalt aus Art. 136 I WRV i.V.m. Art. 140 GG hergeleitet werden kann. Denn zu den staatsbürgerlichen Pflichten gehört es, Gesetze zu befolgen.

Art. 140 GG übernimmt allerdings Art. 135 S. 3 WRV, der die Religionsfreiheit garantierte und einen Gesetzesvorbehalt enthielt, gerade nicht.[2] Art. 136 I WRV bezieht sich außerdem nur auf die Religion, nicht auf die Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit. Es ist aber nicht ersichtlich, weshalb diese stärker geschützt sein sollten. Die Übernahme von Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung durch Art. 140 GG sollte vielmehr das sog. Staatskirchenrecht regeln, welches das Verhältnis von Religionsgemeinschaften zum Staat regelt. Alle sonstigen Gesetzesvorbehalte stehen systematisch im Grundgesetz auch direkt beim jeweiligen Grundrecht. Daher ist in Art. 136 I WRV i.V.m. Art. 140 GG kein Gesetzesvorbehalt zur Religionsfreiheit zu sehen.

Die Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG ist somit vorbehaltslos gewährleistet. Eine Beschränkung dieses Grundrechts ist nur durch verfassungsimmanente Schranken möglich, wenn die Religionsfreiheit mit andern Verfassungsgütern kollidiert. Vorliegend ist dies der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag aus Art. 7 I GG.

b) Eingriffsgrundlage

Die Schulpflicht der M und die Verweigerung ihrer Befreiung vom Schwimmunterricht stützten sich auf §§ 41, 45f. Schulgesetz Bln.

Die §§ 41, 45f. Schulgesetz Bln sind formell verfassungskonform. Schulrecht ist nach Art. 70 I GG Ländersache. Das Zitiergebot aus Art. 19 II GG gilt nicht bei verfassungsimmanenten Schranken, sondern nur bei Grundrechten, die ihrem Wortlaut nach ausdrücklich „aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt“ werden können. Im Übrigen ergeben sich keine Anhaltspunkte aus dem Sachverhalt.

Die §§ 41, 45f. Schulgesetz Bln sind auch materiell verfassungskonform. Sie sind insbesondere verhältnismäßig, da die Befreiungsmöglichkeit in § 46 V SchulG Bln über den unbestimmten Rechtsbegriff des „wichtigen Grundes“ verfassungskonform auslegbar ist. Denn „wichtiger Grund“ in diesem Sinne kann auch die Religionsfreiheit der M sein. Eine unverhältnismäßige Beschränkung der Grundrechte der M lässt sich somit im Einzelfall ggf. durch Gewährung einer Befreiung vermeiden.

c) Anwendung der Eingriffsgrundlage im Einzelfall

Die Anwendung der §§ 41, 45f. SchulG Bln, insbesondere des § 46 V SchulG Bln, der die Befreiung ermöglicht, müsste im hier gegenständlichen Fall verhältnismäßig gewesen sein.

aa) Legitimes Ziel

Legitimer Zweck der Verweigerung einer Befreiung von der Schulpflicht, bzw. Zweck der Schulpflicht, war die Durchführung des Bildungs- und Erziehungsauftrags aus Art. 7 I GG. Der Schwimmunterricht soll zunächst die Schülerinnen und Schüler zur körperlichen, geistigen und sozialen Entwicklung durch Sport anhalten (vgl. § 3 III Nr. 8 SchulG Bln), aber auch Schwimmen als Überlebenstechnik lehren. Darüber hinaus dient die vollständige Teilnahme an allen Schulveranstaltungen aber auch dem Ziel, soziale Kompetenz im Umgang mit Andersdenkenden, Toleranz, Gleichberechtigung und Offenheit zu fördern (vgl. § 3 III Nr. 1, 2 und 3 SchulG Bln.).

bb) Geeignetheit

Zu diesen Zielen ist die Teilnahme am Schwimmunterricht auch ein geeignetes, also jedenfalls förderliches Mittel.

cc) Erforderlichkeit

Fraglich ist aber, ob der schulische Schwimmunterricht für M auch erforderlich ist. In Betracht kommt als milderes Mittel z. B. ein nach Geschlechtern getrennter Schwimmunterricht oder die Ermöglichung privaten Schwimmunterrichts durch die Eltern. Diese würden die Religionsfreiheit der M weniger bzw. nicht belasten. Mit Blick auf die verschiedenen Zwecke, die der schulische Schwimmunterricht verfolgt, sind diese milderen Mittel aber nicht gleich geeignet. Zwar ließe sich sportliche Betätigung und eine Vermittlung der Überlebenstechnik Schwimmen auch in einem solchen Unterricht erreichen. Doch mit getrenntem Schwimmunterricht wäre die Gleichstellung von Mann und Frau nicht gleichermaßen gut vermittelbar und privater Schwimmunterricht würde zusätzlich die Kompetenz des sozialen Umgangs mit Andersdenkenden nicht vermitteln können. Insofern ist es auch erforderlich, dass M am Schwimmunterricht teilnimmt.

 

dd) Angemessenheit

Problematisch scheint schließlich, ob die Verweigerung einer Befreiung der M vom Schwimmunterricht angemessen war. Die Schwere des Eingriffs dürfte nicht außer Verhältnis zum gegenläufigen Ziel stehen.

Im Folgenden wird sehr ausführlich und strukturiert argumentiert. Ob dies in gleicher Weise in einer Klausur erwartet werden könnte, hängt von der zur Verfügung stehenden Bearbeitungszeit ab. Je mehr Zeit Sie haben, desto mehr Detail und Tiefe wird erwartet werden.

(1) Schwere des Eingriffs

Fraglich ist zunächst, wie schwer der Eingriff in die Religionsfreiheit der M wiegt. Religiöse Überzeugungen können für Menschen eine wesentliche, identitätsstiftende Bedeutung haben.[3] Ihre Beeinträchtigung kann entsprechend schwer wiegen. M gibt an, dass sie bei einer Teilnahme am Schwimmunterricht gegen die Bekleidungsvorschriften verstoßen müsste, die sie für sich aus religiösen Gründen für verbindlich ansieht. Auch in einem Burkini seien noch immer Körperkonturen sichtbar. Der Burkini, der laut Sachverhalt weit geschnitten ist und den gesamten Körper bis auf Hände und Gesicht bedeckt, wird jedoch die Beeinträchtigung der Religionsfreiheit der M gegenüber einer Teilnahme in einem sonst handelsüblichen Schwimmanzug erheblich abmildern. Denn mit dem Burkini kommt sie den Bekleidungsgeboten, die sie beachten möchte, jedenfalls deutlich näher als ohne. Dass bei bestimmten Bewegungen noch Körperkonturen sichtbar sein könnten, mag zutreffen. Dies trifft jedoch auch sonst im Alltag zu. Insbesondere wird es auf den Sportunterricht zutreffen, an dem die M mit langer Hose und langärmeligem Hemd teilnimmt. Insofern mag noch immer eine gewisse Belastung vorliegen, wie M vorträgt. Diese ist jedoch durch den Burkini stark gemindert.

Der Eingriff könnte aber auch deshalb schwerer wiegen, weil intolerante Äußerungen der Mitschülerinnen und Mitschüler zu erwarten sein könnten, wenn M im Burkini am Unterricht teilnimmt. Dies ist zwar nicht sicher, bei lebensnaher Betrachtung aber – gerade unter 14-Jährigen – keineswegs ausgeschlossen.

M würde auch dem Anblick von anderen (männlichen) Kindern, die Badehosen tragen ausgesetzt, was ihren religiösen Vorstellungen nicht entspricht. Es scheint auch nicht ausgeschlossen, dass es während des Unterrichts zu (unabsichtlichen) Berührungen von M mit anderen Mitschülerinnen und Mitschülern kommen könnte.

Eine Beeinträchtigung der Religionsfreiheit liegt nach alldem vor, sie ist aber jedenfalls aufgrund des Burkinis abgemildert.

(2) Bedeutung der legitimen Zwecke

Die Bedeutung des Schwimmunterrichts ergibt sich zunächst aus dem legitimen Ziel, Schülerinnen und Schülern verschiedene übliche Sportarten und die damit verbundenen Gesundheitsvorteile näherzubringen. Schwimmen ist wie erwähnt auch eine wichtige Überlebenstechnik.

Darüber hinaus soll der Schwimmunterricht aber auch soziale Kompetenzen fördern. Wie der Schulbesuch insgesamt soll er Schülerinnen und Schüler zu einem selbstbestimmten und sozialverträglichen Grundrechtsgebrauch in einer pluralistischen Gesellschaft befähigen.[4] Toleranz, Gleichberechtigung und Offenheit sind hierbei wesentliche Werte, die vermittelt werden sollen und dürfen.

Schließlich erfüllt der Schulbesuch auch eine Integrationsfunktion. Migrationspolitisch wird hiermit oft eine Eingliederung in die deutsche Kultur bezeichnet. Staatsrechtlich und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist mit dem Begriff anderes gemeint: Bürgerinnen und Bürger sollen sich, trotz aller Differenz, die gesellschaftlich zwischen ihnen bestehen mag (wirtschaftlich, religiös, kulturell, politisch, etc.), als gleichberechtigte Mitglieder einer politischen Gemeinschaft verstehen. Der gemeinsame Schulbesuch aller Kinder (unabhängig von Herkunft, sozialer Lage, usw.) bezweckt somit nicht lediglich die Vermittlung von Fähigkeiten für den Arbeitsmarkt, sondern ist ein wesentliches Mittel gesellschaftlicher Integration. In einer pluralistischen Gesellschaft kommt hierbei dem Erlernen des Umgangs mit Differenz besondere Bedeutung zu.

(3) Abwägung

Wenn mehrere Verfassungsgüter miteinander kollidieren, wie hier die Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG und der Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates aus Art. 7 I GG, ist möglichst „praktische Konkordanz“ herzustellen,[5] d.h. es ist ein schonender Ausgleich zwischen den widerstreitenden Verfassungsgütern zu finden, der allen zu möglichst weitgehender Entfaltung verhilft.

Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass der Staat Schulunterricht in einer pluralistischen Gesellschaft nicht am kleinsten gemeinsamen Nenner aller Beteiligten ausrichten kann.[6] Wenn die Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen, die es gleichberechtigt zu berücksichtigen gälte, jeweils besondere Inhalte verlangen und andere zurückweisen könnten, wäre ein sinnvolles Curriculum vielfach nicht mehr organisierbar. Wenn aber Grundrechte im Einzelfall besonders stark beeinträchtigt würden und kein sinnvoller Ausgleich möglich ist, könnte der Bildungs- und Erziehungsauftrag durchaus nachrangig und eine Befreiung geboten sein. Dann wäre eine solche Befreiung im Ergebnis auch im Interesse der Integrationsfunktion, da sie einen starken Konflikt vermeidet. Der Einzelne kann insofern auch in der Schule eine angemessene Berücksichtigung seiner Interessen verlangen. Man darf sich einem Entgegenkommen aber auch nicht gänzlich verschließen.

Die Möglichkeit, beim Schwimmen den Burkini zu tragen, mindert das Maß, in dem M von ihren religiösen Bekleidungsvorschriften abweichen muss, erheblich. Die insofern verbleibende Beeinträchtigung, die darin besteht, dass bei gewissen Bewegungen noch Körperkonturen sichtbar sein könnten, besteht so auch im Alltag und insbesondere auch beim sonstigen Sportunterricht, an dem M teilnimmt. Die hier gegenständliche Abweichung von den Bekleidungsvorschriften ist insofern eine lediglich geringfügige Beeinträchtigung der Religionsfreiheit.

Vereinzelte intolerante Äußerungen wären im Grundsatz ein, wenn auch nicht zu begrüßender, üblicher Teil der Sozialisation. Ein Zweck der Teilnahme am Unterricht, und auch am Schwimmunterricht, ist es insofern gerade, den Umgang mit sozialen Konflikten in einer pluralistischen Gesellschaft zu erlernen. Dazu gehört es auch, ggf. mit mehr Aufmerksamkeit zu leben, wenn man in einer von Anderen abweichenden Weise von seinen Grundrechten Gebrauch macht.[7] Dies alles gilt aber nur in zumutbaren Grenzen. Lehrerinnen und Lehrer haben selbstverständlich eine Schutzpflicht gegenüber M und müssten jedenfalls gegen Exzesse einschreiten und für Toleranz eintreten.

Der Anblick anderer (männlicher) Kinder in Badehose mag den religiösen Überzeugungen der M zuwiderlaufen. In einer pluralistischen Gesellschaft kann es jedoch keinen Schutz davor geben, mit dem abweichenden Grundrechtsgebrauch anderer konfrontiert zu werden.[8] Grundrechte sollen ein Verhalten, das von dem anderer Personen abweicht, gerade ermöglichen. Ausprägungen von Differenz ausgesetzt zu sein, ist in einem freiheitlichen Staat der Normalfall und grundsätzlich zumutbar. Dies gilt auch dann noch, wenn man dem nicht freiwillig ausgesetzt ist, wie im Schulunterricht, und gilt im Übrigen auch umgekehrt: Mitschülerinnen und Mitschüler der M (oder deren Eltern) haben kein Recht darauf, nicht mit dem Kopftuch der M konfrontiert zu werden.[9]

Der Möglichkeit von Berührungen mit anderen Schüler/innen kann M einmal durch eigenes Verhalten entgegenwirken und auch die Organisation des Unterrichts durch die Lehrer/innen muss im Sinne praktischer Konkordanz darauf Rücksicht nehmen. Schließlich sind Berührungen in ähnlichem Maße auch im sonstigen Sportunterricht, an dem M teilnimmt, nicht gänzlich zu vermeiden. Insofern ist die Beeinträchtigung ihrer Religionsfreiheit auch hierdurch nicht überzubewerten.

Insgesamt liegt daher durchaus eine Beeinträchtigung der Religionsfreiheit der M aus Art. 4 I, II GM vor, diese ist aber als eher geringfügig anzusehen. Die Belastung kann insbesondere durch den Burkini und eine Wahrnehmung von Schutzpflichten durch die Lehrkräfte abgemildert werden. Der Bildungs- und Erziehungsauftrag aus Art. 7 I GG erschöpft sich wie gesehen nicht in gesundheitlichen Vorteilen des Sports und des Schwimmens als Überlebenstechnik, sondern besteht gerade auch in der Vermittlung sozialer Kompetenzen in einer pluralistischen Gesellschaft, für die eine vollständige Teilnahme an allen Fächern wesentlich ist. Dem Bildungs- und Erziehungsauftrag ist daher vorliegend Vorrang einzuräumen. Die Beschränkung der Religionsfreiheit der M ist angemessen und damit auch insgesamt verhältnismäßig.

Anmerkung: Der Lösungsvorschlag im Text entspricht der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in solchen Fällen.[10] Mit ähnlicher Begründung wurden in jüngerer Zeit auch andere Befreiungsanträge abgelehnt, etwa der eines christlichen Vaters für eine Klassenfahrt seiner Tochter.[11]

Eine a.A. ist aber (wie fast immer in der Verhältnismäßigkeit i.e.S.) vertretbar, z. B. mit der Auffassung in der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts[12] und (für eine christliche Schülerin) des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs.[13] Nach dieser Auffassung könnte unter „(3) Abwägung“ z. B. wie folgt argumentiert werden.

Die Schwere des Eingriffs in die Religionsfreiheit mag durch die Möglichkeit der G., sich ihren Überzeugungen über Bekleidungsvorschriften mit dem Burkini jedenfalls weiter anzunähern, gemindert sein. Eine Belastung ist aber dennoch vorhanden und wird dadurch, dass die M in eher unüblicher Kleidung teilnehmen müsste, durch die zu erwartenden sozialen Reaktionen im Klassenverband verstärkt. Diese deutliche Belastung müsste aufgrund der pädagogischen Bedeutung des Schwimmunterrichts gerechtfertigt sein.

Die Bedeutung des koedukativen Schwimmunterrichts ist jedoch nicht allzu hoch zu veranschlagen. Er stellt nur einen eher geringen Teil des Sportunterrichts dar. Fast alle Zwecke dieses Unterrichts könnten letztlich auch durch getrennten Unterricht erreicht werden. Auch die Gleichstellung von Mann und Frau würde durch koedukativen Unterricht in allen anderen Fächern und hier auch im sonstigen Sportunterricht fast ebenso gut erreicht. Wenn aber koedukativer Schwimmunterricht gewählt wird, um diese Ziele noch weitgehender zu erreichen, kann dies für Einzelne aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen zu einer starken Belastung führen. So liegt es hier für die G. Dass eine Befreiung der M die Organisation des Unterrichts übermäßig erschweren würde, ist nicht ersichtlich.

Insgesamt steht die Schwere des Eingriffs außer Verhältnis zu den verfolgten legitimen Zwecken. Die Verweigerung einer Befreiung der M vom Schwimmunterricht ist daher unangemessen und unverhältnismäßig.

II. Art. 2 I GG

Die allgemeine Handlungsfreiheit tritt subsidiär hinter das besondere Freiheitsrecht der Religionsfreiheit zurück.

C. Gesamtergebnis

Die Verfassungsbeschwerde ist teils zulässig, aber unbegründet. Das Bundesverfassungs-gericht wird sie zurückweisen.

Hinweis: Bei a.A.: Die Verfassungsbeschwerde ist teils zulässig und insofern auch begründet. Das Bundesverfassungsgericht wird das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aufheben und an das Gericht zurückverweisen, § 95 II BVerfGG.

 

© Markus Heintzen und Heike Krieger (Freie Universität Berlin)

Bearbeitung für Hauptstadtfälle: Dr. Björnstjern Baade

Stand der Bearbeitung: April 2020

 


[1] BVerfGE 28, 243 (255). S. hierzu (generell instruktiv): Ebert, Grundwissen Verfassungsbeschwerde, ZJS 2015, 485 (486), verfügbar unter: http://www.zjs-online.com/dat/artikel/2015_5_940.pdf.

[2] S. hierzu: Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919: Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 13. Aufl. 1930, Art. 135 Rn. 6., Art. 136 Rn. 1, der in Art. 136 I WRV lediglich eine Wiederholung von Art. 135 S. 3 WRV sieht.

[3] S. etwa: BVerfGE 138, 296 (332) – 2. Kopftuchurteil.

[4] S. schon: BVerfGE 47, 46/72 – Sexualkunde: „selbstverantwortliche[s] Mitglied der Gesellschaft“.

[5] S. hierzu: Zippelius/Würtenberg, Deutsches Staatsrecht, 33. Aufl. 2018, § 7 Rn. 22, 37.

[6] BVerfGE 47, 46 (68, 76–79, 84 f.) – Sexualkunde

[7] BVerfGE 52, 223 (248 f.) – Schulgebet.

[8] St. Rspr.: BVerfGE 93, 1 (18) – Kruzifixbeschluss; 108, 282 (302) – 1. Kopftuchurteil; 138, 296 (338) – 2. Kopftuchurteil.

[9] Die Frage, des Kopftuchs einer Lehrerin oder anderer Staatsbediensteter ist komplexer, da hier die Neutralitätspflicht des Staates zu beachten ist: BVerfGE 138, 296 – Kopftuch II. Siehe zu dieser Frage auch: Sandhu,Vier Gegenthesen zum Kopftuchurteil des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, Verfassungsblog vom 20. März 2019, verfügbar unter: https://verfassungsblog.de/vier-gegenthesen-zum-kopftuchurteil-des-bayerischen-verfassungsgerichtshofs/.

[10] BVerwGE 147, 362-379; BVerfG, Beschluss vom 8. November 2016, 1 BvR 3237/13; EGMR, Osmanoğlu und Kocabaş gegen die Schweiz, Urteil vom 10. Januar 2017, Nr. 29086/12. Zuvor schon: Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 28. September 2012 – 7 A 1590/12 –, juris.

[11] Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen, Urteil vom 19. November 2013 –1 A 275/10 –, juris.

[12] BVerwGE 94, 82–94, Rn. 22 ff.

[13] Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 6. Mai 1987 – 7 B 86.01557 –, NVwZ 1987, 706-708.


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